Vor vielen Monaten habe ich Manuel Schmid angefragt, am IGW Inspirationstag über seine Dissertation zu berichten. Ich empfand das Thema offener Theismus spannend, herausfordernd und habe aber selbst einige kritische Anfragen daran. Zudem liebe ich es, mich mit theologischen Konzepten auseinander zu setzen, die mir bis dahin nur wenig zugänglich waren. Ich kann dann ja im Rahmen meiner eigenen Müdigkeit entscheiden, wie ich darüber denke, wie ich es beurteile, wie ich es mit meiner persönlichen Sicht von Theologie und Bibel abgleiche, was ich behalte und was ich verwerfe.
Dieser mündige und unaufgeregte Umgang mit andersartigen theologischen Sichtweisen scheint aber nicht durchgängig in der Christenheit verbreitet zu sein. Manuel Schmid musste nun im Zusammenhang mit diesem IGW Inspirationstag und einem kurz zuvor veröffentlichten Interview im Idea Spektrum erleben, wie moderne Hexenjagt aussehen kann. Es sind ja bekanntlich die Evangelikalen, die als allererstes das dunkle Mittelalter kritisieren mit den katholischen Auswüchsen der Inquisition und Hexenverfolgung. Gerne hebt man sich davon ab um die eigene Praxis und Theologie daraufhin in unmittelbarer Nähe der Bibel zurück. Was aber mit Christen passieren kann, die theologisch von der gegenwärtigen Norm abweichen (die wiederum völlig subjektiv festgelegt ist und nicht automatisch eine Nähe zur Bibel für sich reklamieren kann) ist im Beispiel von Manuel Schmid deutlich zu erkennen. Was er an Vorwürfen und Anklagen und Pauschalverurteilungen und Beleidigungen ertragen musste im Anschluss an dieses Interview und seinen Besuch beim IGW, ist wirklich unfassbar!
Nach langem Zögern hat er nun eine Erwiderung auf die massive Kritik veröffentlicht, die ich hier im Rahmen meines Blogs gerne verbreite und einem weiteren Publikum zugänglich machen möchte. Trotz meiner eigenen kritischen Anfragen an den offenen Theismus stelle ich mich von ganzem Herzen hinter Manuel Schmid als Mensch, als Freund, als Christ, als Theologe und als jemand, der mich persönlich inspiriert, weiterbringt, zum Lachen bringt und das Reich Gottes für mich kostbarer macht.
Lieber Manuel, theologisiere mutig und nachhaltig weiter!
Manuel Schmid
Offener Theismus und evangelikale Kritik
Replik auf einige Reaktionen zu meinem Interview im IDEA-Spektrum
Verbale Krater eines Interview-Einschlags
Ich hätte es eigentlich kommen sehen müssen.
Was mein Interview im IDEA-Spektrum 04/2018 im evangelikalen Biotop auslösen würde, war sozusagen prädestiniert (sorry für die Anspielung…).
Dabei hat es so harmlos angefangen: Im Frühling letzten Jahres wurde ich von der theologischen Ausbildungsstätte IGW angefragt, im Rahmen eines Studientages das Thema meiner Dissertation vorzustellen. Ich habe über den Offenen Theismus geschrieben – eine theologische Bewegung aus den USA, die in den 90er und 00er-Jahren hohe Wellen geworfen hat. Die Geschichte dieser Bewegung ist überaus spannend, und deren theologische Positionen halte ich mindestens für anregend – darum habe ich auch mehrere Jahre in die Erforschung des Offenen Theismus investiert.
Am IGW Studientag konnte ich in zwei längeren Referaten die Grundüberzeugungen des Offenen Theismus vorstellen, die Probleme dieser Sicht aufzeigen und schliesslich viele engagierte Fragen beantworten. Von den Teilnehmer habe ich ausschliesslich positive Rückmeldungen bekommen: Die Ideen des Offenen Theismus haben die Studierenden herausgefordert, manche theologische »Selbstverständlichkeit« hinterfragt und zum Weiterdenken angeregt: Ziel erfüllt.
Nicht ganz so ermutigend waren allerdings einige Reaktionen auf das IDEA-Interview mit mir, das wenige Tage vor dem Studientag veröffentlicht wurde. Das Interview war die stark gekürzte Verschriftlichung eines über einstündigen Gespräches, das ich mit dem IDEA-Schreiberling über das Thema meiner Doktorarbeit geführt habe. Ich habe mich dabei durchaus ernst genommen gefühlt, und auch mit dem abgedruckten Text konnte ich gut leben, selbst wenn einige Antworten dem Medium des Interviews gemäss sehr grob geschnitzt und erklärungsbedürftig daherkommen – und auch wenn das ganze unter den nicht von mir gewählten, provokativen Titel »Gott hat keinen Plan für dein Leben« gestellt wurde.
Schon im Folgeheft schlugen die Wogen dann erstaunlich hoch. Ein Leserbriefschreiber bezichtigt mich der Majestätsbeleidigung, ein anderer empfiehlt implizit, den Pastorennachwuchs nicht mehr an Ausbildungsstätten zu schicken, in denen Leute wie ich lehren, und Felix Aeschlimann weiss als Studienleiter des Beatenberges ganz sicher, dass »der Gott des Offenen Theismus […] nicht der Gott der Juden und Christen« ist, sondern dass er Gott vielmehr »auf die Stufe der Götter Homers« herunterhole. Damit würde in der Gotteslehre »eine rote Linie mit verheerenden Konsequenzen für Glauben und Kirche« überschritten. Darüber hinaus wuchs mir im selben Zeitraum die Ehre zu, vom neo- calvinistischen Blogger Hanniel Strebel ins Visier genommen zu werden: Hanniel hält den Offenen Theismus nicht nur für »Unfug«, sondern für eine »groteske« Verzerrung des biblischen Gottesbildes, gegen die mit aller Vehemenz angekämpft werden muss und deren Vertreter an theologischen Seminaren mittels »Lehrverfahren« zum Verstummen gebracht werden sollten. Seine eigene, extrem-prädeterministischen Position weiss er durch einen ganzen Katalog an Bibelstellen abgestützt. Auch Ron Kubsch, ein deutscher Wächter der reinen Lehre, der mich schon früher aufs Korn genommen hatte, fühlte sich zu einer Stellungnahme zum Offenen Theismus veranlasst, und die Leserkommentare zu den digitalen Beiträgen dieser Autoren sollte man sich nicht auf leeren Magen antun.
Kritik im Anliegen institutioneller Konsequenzen
Nun denn – wo fängt man angesichts solcher Anschuldigungen mit einer Stellungnahme überhaupt an?
Vielleicht mit der Klarstellung, dass ich diese Zeilen nur sehr zögerlich und nach einer längeren Zeit des Stillschweigens verfasse, weil ich eigentlich weder die nötige Lust noch die Zeit habe, mich zu rechtfertigen oder in endlose und fruchtlose Streitgespräche einzutreten. Wenn es nur um mich ginge, dann würde ich die theologischen Kritiker, Blogger und Facebook-Aktivisten kommentarlos gegen mich anschreiben lassen, bis der Herr Jesus wiederkommt. You’ve only got one life, you gotta choose your battles! – diesen Rat meines Freundes Greg Boyd (ja genau, der von Hanniel sogenannte »Guru« der Offenen Theismus…) halte ich für ausgesprochen weise und beachtenswert in solchen Auseinandersetzungen.
Aber es geht offensichtlich nicht mehr nur um mich. Rolf Höneisen schreibt im Editorial, dass IDEA mit dem Interview »öffentlich […] machen« wollte, »was hinter Seminartüren gelehrt wird« (3), und Hanniel stilisiert mich geradezu zum Missionar des Offenen Theismus hoch, der diese (seiner Einschätzung nach) bedenkliche theologische Bewegung nun über den grossen Teich nach Europa importiert: Er zeichnet von mir das Bild eines eifrigen Jüngers der »Offenheit Gottes«, der seine Kontakte und Anstellungen am TSC, IGW und im ICF Movement gezielt nutzt, um jene neue Lehre im deutschsprachigen Evangelikalismus unter die Leute zu bringen. Diese Karikatur meiner selbst muss notwendigerweise ohne irgendwelche Belege auskommen – denn ich habe in 13 Jahren Dienstzeit als Pastor im ICF und in vielen Jahren als Dozent am TSC und am IGW noch nie für den Offenen Theismus geworben oder ihn auch nur zur Sprache gebracht. Dies freilich nicht, weil ich mich dessen nicht getraut hätte, sondern weil es nicht Thema meiner Lehrveranstaltungen war (ich unterrichte Homiletik, Kulturhermeneutik und Kommunikation) und weil meine Theologie nicht auf Fragen des Offenen Theismus beschränkt ist: Ich unterrichte und predige letztlich, um Menschen die Liebe Gottes einsichtig zu machen, die sich uns in Jesus Christus gezeigt hat. Das ist Zentrum meiner Theologie, und nicht ein Modell zur Verhältnisbestimmung von göttlicher Vorsehung und menschlicher Freiheit. (Selbst Gregory Boyd, ein Vertreter des Offenen Theismus, der tatsächlich schon zweimal als Gastprediger im ICF Basel war, hat in keiner seiner Botschaften auch nur ein Wort über den Offenen Theismus verloren. Er wurde auch nicht als »Guru« des Offenen Theismus eingeflogen, wie Hanniel meint, und schon gar nicht wurden »die Leiter und Verantwortlichen des ICF Movement zu Seminaren um Greg Boyd eingeladen«.) Der Offene Theismus ist also mitnichten das, was von mir »hinter verschlossenen Seminartüren« gelehrt oder vor einem theologisch unbedarften ICF- Publikum (wie Hanniel meint) gepredigt wird – es ist schlicht und ergreifend das Thema meiner Dissertation gewesen, zu dem ich im IGW und im IDEA-Interview Auskunft gegeben habe. Trotz fehlender Evidenz verfehlt meine Portraitierung als Missionar des Offenen Theismus ihre Wirkung allerdings nicht: Meine verschiedenen Arbeitgeber mussten sich gegen teilweise massive Kritik zur Wehr setzen, und mehrere Beschwerdenträger haben meine umgehende Entlassung gefordert oder mit dem Zurückhalten von Studenten und Spendengeldern gedroht.
Kritik ohne erkennbares Bemühen um Verständnis des anderen
Soweit ist es also gekommen. Und das Erstaunlichste dabei: All diese Anschuldigungen, Unterstellungen, Urteile und Drohungen waren möglich, ohne dass auch nur eine einzige Person mit mir Rücksprache genommen hätte. Ein vierseitiges Interview (inkl. Bilder und Textboxen) hat den Kritikern offenbar gereicht, um sich ein angemessenes Bild von mir und meiner Theologie zu machen und öffentlich in scharfer Polemik Stellung zu beziehen. Nicht einmal Felix Aeschlimann, dem man eine ausführliche Replik auf mein Interview im IDEA zugestand, fühlte sich veranlasst, sich bei mir gegen allfällige Missverständnisse zu versichern oder Verständnisfragen zu stellen. (By the way: Man beachte, dass hier mit ungleich langen Spiessen gekämpft wird: Ich komme anhand eines mündlichen, vom Journalisten auf einige wenige Fragen heruntergekürzten Interviews zur Sprache, während Herr Aeschlimann eine eingehende schriftliche Gegendarstellung verfassen kann…) Das ist schon bemerkenswert: Ich habe etwa fünf Jahre meines Lebens damit zugebracht, den Offenen Theismus zu studieren, analysieren und kritisieren – eine Zeit, aus der meine Dissertation und darüber hinaus (!) mehr als 600 Seiten Forschungsarbeit hervorgegangen sind. Am IGW Studientag habe ich einen Teil meiner Forschungen auf etwa 2 1⁄2 Stunden Vortrag verdichtet. Alle diese Quellen wären den Kritikern auf Anfrage bei mir oder beim IGW verfügbar gewesen – aber das war ihnen dann wohl doch zu viel gedankliche Arbeit: Man hat ja einige griffige Fragen und Antworten aus einem christlichen Populärmedium, die sich für einen oberflächlichen Verriss schon hervorragend eignen… Dabei gebietet es nicht erst die wissenschaftliche Redlichkeit, sondern schon der menschliche Anstand und ganz sicher die christliche Nächstenliebe, dass wenigstens der Versuch unternommen wird, sein Gegenüber möglichst gut zu verstehen, bevor man es verbal unter Beschuss nimmt.
Die durchgängige Missachtung dieser Regel durch meine Kritiker führt zu einer fast schon absurden Situation: Ich werde für ein knappes Interview kritisiert, das eigentlich auf einen Impulstag verweisen wollte, welcher wiederum auf meine Dissertation bezogen war. Statt mit mir auf der Höhe meiner Auseinandersetzung mit dem Offenen Theismus ins Gespräch zu kommen, werde ich so mit Argumenten »widerlegt«, auf die ich (teilweise in meinen beiden Referaten und ganz sicher in meiner Dissertation) längst eingegangen bin. Darüber hinaus werde ich von sämtlichen Kritikern unversehens mit dem Offenen Theismus identifiziert, auch wenn ich schon im Interview einige Probleme diese Sicht andeute und in meiner Dissertation an mehreren Stellen extensive Kritik an Teilaspekten des Offenen Theismus übe. Ich habe am IGW und im IDEA über das Thema meiner Dissertation gesprochen, und auch wenn ich zumal im Interview (vielleicht etwas unvorsichtig?) zugestehe, dass ich »in wesentlichen Fragen auf denselben Linien denke«, so ist es doch ungerechtfertigt, mich ohne jegliches Zurückzufragen für alles zu behaften, was der Offene Theismus lehrt. Die zumindest für den wissenschaftlichen Diskurs fundamentale Unterscheidung zwischen der möglichst wohlwollenden Darstellung einer Position und der eigenen kritischen Auseinandersetzung mit dieser Position wird von Aeschlimann, Hanniel und Konsorten im Blick auf meine Äusserungen geradezu strategisch übergangen. Es mag sein, dass diese Unterscheidung im besagten Interview zu wenig deutlich hervortritt – umso dringender wäre dann aber die Beschäftigung mit dem gewesen, was ich ausführlich und wissenschaftlich reflektiert zum Offenen Theismus gesagt und geschrieben habe.
Kritik ohne Einsicht in die Begrenzung der eigenen Position
Um die Sache aber auch inhaltlich zuzuspitzen: Selbst wenn ich mit dem Offenen Theismus vorbehaltlos übereinstimmen würde und selbst wenn ich diese Sicht Gottes und seiner Geschichte mit dem Menschen öffentlich verbreiten würde: Die Art und Weise, in der Aeschlimann und meine Online-Gegner mit diesem bibeltheologischen Entwurf umgehen, lässt mich (fast;-) sprachlos zurück. Ohne mit der Wimper zu zucken referieren diese Autoren ihre Sicht der Dinge als das, was den christlichen Glauben in Tat und Wahrheit ausmacht, und sammeln fleissig möglichst viele Bibelverse zusammen, die ihre Position zu bekräftigen scheinen. Die hermeneutische Naivität, in der Aeschlimann – nota bene als Studienleiter einer theologischen Ausbildungsstätte! – seinen Zugang zur biblischen Überlieferung und seine daraus abgeleitete theologische Modellbildung mit dem identifiziert, was die Bibel wirklich lehrt und »die Gläubigen Israels und der Kirche« seit Jahrtausenden festhalten, ist fast schon wieder beneidenswert. Offenbar hat ihn noch nicht einmal von Ferne der Gedanke gestreift, dass auch seine ultra-calvinistische Prädestinationslehre nur ein menschlicher Systematisierungsversuch sein könnte – eine Möglichkeit, die vielgestaltige und spannungsreiche biblische Gottesrede in ein wasserdichtes Modell zu pressen, das von philosophischen Vorannahmen zum Wesen Gottes lebt und sich gegen jegliche Kritik zu immunisieren bestrebt ist. Und wer jetzt beleidigt (oder triumphierend) ausrufen möchte, das gelte doch alles genauso für den Offenen Theismus: Ja, natürlich tut es das! Eben darum führt es kaum weiter, wenn die Konfliktteilnehmer je für sich selbst einen überlegenen, absoluten Erkenntnisstandpunkt reklamieren und dann aus dieser luftigen Höhe den Gegner als »unbiblisch« oder sogar »häretisch« abkanzeln. Auf diese Weise wird kein theologischer Diskurs eröffnet, sondern höchstens persönliche und institutionelle Machtpolitik betrieben.
Wirklich konstruktiv wäre allenfalls die Offenlegung der eigenen hermeneutischen Prämissen und theologischen Voraussetzungen, unter welchen die biblischen Gotteszeugnisse gelesen und verarbeitet werden, und der aufrichtige Versuch, die hinter den Positionen des anderen stehenden Anliegen ernst zu nehmen und vielleicht sogar im eigenen Modell deutlicher zur Geltung zu bringen. Ein solcher Dialog aber kann nur stattfinden, wenn die Gesprächsteilnehmer ein Bewusstsein für die Bedingtheit und Erklärungsbedürftigkeit des eigenen Standpunktes mitbringen – eben das scheint bei meinen Kritikern weitgehend nicht der Fall zu sein. Sicher: Dass ein IDEA-Leser mir die Rückmeldung gibt, der Offene Theismus sei »schlicht nicht biblisch«, ist verständlich und verzeihlich: Dieses Modell steht vielen Überzeugungen entgegen, welche zumal im konservativen Evangelikalismus über Jahrzehnte hinweg als biblisch abgesichert kultiviert wurden, und es setzt ein erhebliches Mass an theologischer Entdeckerfreude und Reflexionsbereitschaft voraus, sich in einem solchen Kontext auf den Offenen Theismus einzulassen. Spätestens wenn ein einigermassen verantwortlicher Diskurs unter theologisch versierten Teilnehmern zustande kommen soll, ist die Differenzierung zwischen dem biblischen Gotteszeugnis und dem eigenen bibelexegetischen und systematischen Zugriff auf dieses Zeugnis jedoch unerlässlich. Dass diese Differenz von den bisherigen deutschsprachigen Kritikern des Offenen Theismus eingeebnet wird bzw. in ihrer Auseinandersetzung gar nicht erst ins Blickfeld tritt, macht mich hinsichtlich der Kommunikationssituation einigermassen ratlos.
Kritik ohne Chancen auf eigenen Erkenntnisgewinn
Natürlich könnte ich hier auch auf einzelne theologische Anfragen eingehen, die etwa von Felix Aeschlimann vorgebracht werden. Ich könnte seine Kritik aufgreifen, der Offene Theismus (und ich mit ihm) würde mit einem Jahrtausende alten Konsens in der Gotteslehre brechen und sich schon durch den Anspruch, theologisch »neues Gebiet« zu betreten, der Irrlehre verdächtig machen. Demgegenüber könnte betont werden, dass der von Aeschlimann, Hanniel und anderen vertretene Calvinismus ja selbst ein Kind der Reformation und also eine verhältnismässig junge Erscheinung ist – und mehr noch: dass ihr absoluter Determinismus ziemlich sicher »calvinistischer« ist als Calvin es je war. Viele Kenner der Theologiegeschichte machen jedenfalls deutlich, dass die Reformatoren keineswegs einen so kruden und spannungslosen Vorherbestimmungsglauben hegten, wie ihn die neo-calvinistische Szene heutzutage portiert. (Man könnte sogar die These stark machen, dass der konservative Calvinismus unserer Tage unverkennbar den Geist der Moderne atmet und gewissermassen die theologische »Innenseite« eines – freilich seit der Quantenphysik überholten – newton’schen mechanistischen Weltbildes darstellt…) Die Überzeugung von der absoluten Kontrollgewalt und der lückenlosen Vorsehung Gottes gehört jedenfalls mitnichten zum zeitlosen Grundbestand des christlichen Glaubens, sondern kennt durch die Geschichte der Kirche hindurch zahlreiche Widerstände und entsprechende Alternativkonzeptionen.
Dann könnte ich auch die Anschuldigung adressieren, der Offene Theismus würde die Allmacht und Allwissenheit Gottes verleugnen – und entgegnen, dass sämtliche Vertreter des Offenen Theismus im Gegenteil sehr ausdrücklich und vehement am Bekenntnis zur Allmacht und Allwissenheit Gottes festhalten (etwa im Unterschied zu Vertreter der Prozesstheologie): Sie verstehen diese Attribute aber nicht in einem deterministischen Sinne, sondern – übrigens mit einem Grossteil der reformierten und katholischen Theologie der Gegenwart – als Aspekte der Liebe Gottes: Die Allmacht Gottes ist die Allmacht seiner Liebe, in der er diese Welt hervorbringt und es wagt, seinen Geschöpfen personale Freiheit zuzugestehen. Das damit einhergehende Moment der Unkontrollierbarkeit und Unberechenbarkeit der Schöpfung widerspricht dann nicht der liebenden Allmacht Gottes, sondern ist gerade Resultat und Ausdruck derselben. Die Vorstellung, dass Gott die eiserne Kontrolle über jedem Detail der Schöpfung behalten muss, um wahrhaft Gott zu sein – ja, dass schon ein einziges entglittenes Atom »die perfekten Pläne Gottes zerstören« und die Souveränität Gottes gefährden würde (so Aeschlimann), ist keineswegs die einzige mögliche und sinnvolle Füllung des Allmachtsbegriffs. Gott kann auch und gerade in seiner Allmacht seine Schöpfung mit authentischer Freiheit begaben und eine dynamische, wechselseitige Geschichte mit seinen Geschöpfen schreiben: Eine Geschichte, die er nicht in allen Einzelheiten bestimmen muss, um sie zu einem guten Ende führen zu können, genauso wenig wie ein hervorragender Schachspieler alle Züge seines Gegners voraussehen müsste, um seinen Sieg sicherzustellen. (Die Offenen Theisten haben überdies wiederholt darauf hingewiesen, dass ein Gott, der von einem einzigen abtrünnigen Atom in seiner Gottheit bedroht ist, ein ausgesprochen schwaches und bemitleidenswertes Wesen zu sein scheint – und überhaupt dass der Drang zur völligen Kontrolle im zwischenmenschlichen Bereich als Zeichen der Schwäche, Unsicherheit oder gar Krankheit und gerade nicht der persönlichen Stärke aufgefasst wird. Für die Offenen Theisten gibt es keinen Grund, diese Intuition im Blick auf Gott fallen zu lassen: Eine Allmacht, die darauf angewiesen ist, alles im Voraus wissen und festlegen zu müssen, ist ihrer Einschätzung nach viel weniger vertrauens- und anbetungswürdig als eine Allmacht, die im Zusammenspiel mit freien Geschöpfen an ihr Ziel gelangt.)
All das und vieles mehr liesse sich anmerken, wenn denn der Boden für eine Konversation auf Augenhöhe gegeben wäre – wenn bei meinen Gegenübern also wenigstens Spurenelemente einer Bereitschaft zu erkennen wären, sich auf einen anderen Ansatz einzulassen und die eigene Definition der Begriffe für einen Moment zur Diskussion zu stellen. Solange Herr Aeschlimann und andere Kritiker aber selbstverständlich das Recht für sich in Anspruch nehmen, etwa die obigen Gottesattribute der Allmacht und Allwissenheit allgemeingültig definieren zu dürfen und folge dessen schon gar nicht in Erwägung ziehen, dass das Festhalten der Offenen Theisten an einem allmächtigen und allwissenden Gott ernst gemeint sein könnte, so lange ist es auch kaum erfolgsversprechend, theologisch substantielle Fragen anzugehen.
Hoffnungsschimmer…
Ich möchte aber doch auf einer positiven Note enden. Die Kritiken, auf die ich mit dieser Stellungnahme reagiere, sind nämlich keineswegs die einzigen Rückmeldungen, welche ich auf das Interview im IDEA Spektrum erhalten habe. Ganz im Gegenteil: Die überragende Mehrheit der Emails, Facebook-Nachrichten und persönlichen Antworten, die ich erhalten habe, sind von Dankbarkeit oder sogar Begeisterung getragen. »Ich habe das Interview mit positiver Aufregung gelesen«, schreibt mir ein Gemeindepastor: »Endlich habe ich einen Namen für das Gottesbild, das sich mir beim Lesen der Bibel schon länger aufdrängt!« Ein Seelsorger und Lebensberater schlägt in die selbe Kerbe, wenn er festhält, dass er in meiner Vorstellung des Offenen Theismus sofort zahlreiche Parallelen zu seinem eigenen theologischen Denken gefunden habe, und ein christlicher Psychotherapeut schickt mir einen eigenen Vortrag, der sich in wesentlichen Punkten mit den Positionen des Offenen Theismus deckt. Viele weitere Respondenten haben mir für die Anregungen und frischen Zugänge gedankt, welche die Beschäftigung mit dem Offenen Theismus eröffnet. Am meisten gefreut habe ich mich über die Rückmeldung eines jungen Christen, der verschmitzt meint: »Also, wenn das stimmt, dann ist Gott ja noch viel grösser, als ich bisher gedacht habe!« Das ist genau das Anliegen, das hinter dem Offenen Theismus steht: Nicht die Freiheit des Menschen zu verherrlichen und die ganze Gotteslehre der Idee von der Selbstbestimmung des Menschen zu unterwerfen, sondern die Grösse eines Gottes ins Schaufenster zu stellen, der es sich leisten kann, seine Schöpfung in die Freiheit zu entlassen und mit seinen Geschöpfen eine authentische Liebesgeschichte zu verfolgen.
Man verstehe mich an dieser Stelle richtig: Ich freue mich nicht einfach, weil der Offene Theismus in unseren Breitengraden eine gewisse Anhängerschaft gewinnt – dagegen hätte ich zwar nichts, aber ich habe mich bisher auch nicht dafür eingesetzt. Wer mich kennt, der weiss, dass mir nichts daran gelegen ist, mich mit theologisch Gleichgesinnten zu umgeben, sondern dass ich theologische Differenzen in meiner Kirche, unter den Pastoren im ICF Movement und unter den Dozenten am TSC vielmehr für ausgesprochen gesund, spannend und weiterführend halte. Um in allen Unterschieden aber miteinander zurecht zu kommen – mehr noch: um miteinander in der Nachfolge von Jesus unterwegs zu sein, miteinander Glauben zu leben und Kirche zu gestalten, ist aber eine Wertschätzung für die Position des anderen vonnöten und eine gewisse Erwartung, auch von abweichenden Überzeugungen noch etwas lernen zu können, selbst wenn man sie vielleicht nie teilen wird. Gerade in dieser Hinsicht haben mich die zahlreichen Rückmeldungen im obigen Sinne ausserordentlich ermutigt: Es gibt offenkundig auch im evangelikalen Milieu nicht nur ein weites Spektrum an theologischen Konzeptionen und Positionierungen, sondern immer wieder auch die nötige Bescheidenheit und Neugierde, welche uns fremde Ideen nicht von Vornherein abstossen lässt, sondern von ihnen zu profitieren erwartet. Das stimmt mich inmitten aller kommunikativer Fehlleistungen in der Debatte um den Offenen Theismus doch hoffnungsvoll.
PS: Ich erachte diese Stellungnahme nicht als Eröffnung einer nicht-mehr-enden- wollenden Online-Diskussion um den Offenen Theismus. Im Verlauf dieses oder des nächsten Jahres wird meine Dissertation zum Thema erscheinen, und wer sich mit dieser Bewegung eingehender beschäftigen will, ist eingeladen, das Buch zu verarbeiten. Wer freilich entschlossen ist, mich misszuverstehen, der darf das auch in Zukunft gerne tun – und wer mich richtig versteht und trotzdem (oder gerade deshalb) weiterhin gegen mich anschreiben zu müssen meint, der fühle sich auch darin frei – genauso frei wie ich mich fühle, mich konstruktiveren Aufgaben zuzuwenden und manche Kritik unbeantwortet zu lassen.