Der Hebräerbrief beschreibt, dass Jesus das vollkommene Abbild von Gottes Charakter ist, der unverfälschte Ausdruck seines Wesens (Hebr.1,3). Und es ist die Lebensfreude, die das Wesen Jesu in besonderer Weise ausmacht. Wie komme ich darauf? Im Vergleich zu Johannes dem Täufer!
Der Täufer gilt als die bedeutendste Person im Alten Testament, aus einem alten Priestergeschlecht. Er ist der wiedergekommene Elia (Mt.11,14). Ganz im Geiste dieses alttestamentlichen Propheten ist er auf Krawall gebürstet, lebt zurückgezogen in der Wüste, hält sich von Frauen, Feiern, Alkohol, und Sündern fern, legt sich mit dem König an und predigt radikale Umkehr zu Gott: vom frommen Schriftgelehrten bis zum korrupten Soldaten. Er trägt einfachste Kleidung und ernährt sich ganz asketisch von Heuschrecken und Honig. Viele vermuten in ihm den Messias (Lk.3,15). Seine Jünger hält er zu strengem Fasten und Beten an, ganz wie es die Pharisäer getan haben (Lk.5,33).
Als Johannes Jesus trifft, ist er sofort überwältigt: Hier begegnet ihm der Sohn Gottes, das Lamm, das die Sünden der Welt trägt, der lang ersehnte Messias (Joh.1,29ff). Als er Jesus tauft, sieht er, wie der Heilige Geist in Gestalt einer Taube auf ihn herabkommt.
Und nun beginnt Jesus seine öffentliche Tätigkeit: sein erstes Wunder, bei dem er seine Herrlichkeit offenbarte, war die Verwandlung von Wasser in ca. 600 l besten Wein während einer feucht-fröhlichen Dorfhochzeit. Der Gottessohn verschafft den angetrunkenen Gästen Nachschub!! (Joh.2)
Jesus predigt keine radikale Buße wie Johannes, sondern lässt sich von Sündern und Zöllnern zu üppigen Festmahlen einladen, lässt sich von Prostituierten die Füße salben und hat Frauen als Jüngerinnen. Die Speisegebote und die Einhaltung des Sabbats entschärft er. Während andere beim Fasten ungekämmt und ungewaschen umherlaufen, empfiehlt Jesus seinen Jüngern: „wascht euer Gesicht und salbt euer Haar“ (Mt.6,17).
Johannes erlebt all das aus der Ferne mit und zweifelt: „Bist du wirklich der, der kommen soll, oder müssen wir auf einen anderen warten?“ (Mt.11,3). Vorbei ist seine anfängliche Gewissheit, in Jesus den Retter Israels gefunden zu haben. Jesu Verhalten passt so gar nicht zu seiner Vorstellung eines Retters für Israel. Dieser Messias ist ihm viel zu fröhlich, viel zu lebensfroh, viel zu sehr bei den Menschen, den Feiern, den Sündern, dem Singen und Tanzen. Er fastet zu wenig und trinkt zu viel! Er nimmt zu viel Gel und trägt zu gute Kleidung.
Der Gegensatz zwischen Jesus und Johannes könnte nicht grösser sein. Jesus selbst beschreibt: „Als Johannes der Täufer kam, der fastete und keinen Wein trank, sagten sie: ‚Er ist von einem Dämon besessen.‘ Als der Menschensohn kam, der ganz normal isst und trinkt, sagtet ihr: ‚Seht, was für ein Schlemmer und Säufer, dieser Freund von Zöllnern und Sündern!’“ (Mt.11,18f). Ich habe mich immer gefragt, wie radikal asketisch man sein muss, um beim Volk als besessen zu gelten und wie radikal ausgelassen und lebensfroh man sein muss, um zu den Schlemmen und Säufer gezählt zu werden? Jesus ist zweites auf alle Fälle gelungen.
Als Pastor bin ich zu vielen Menschen begegnet, die ein Jesusbild in ihrem Herzen tragen, dass dem des Johannes entspricht. Dieses Denken, dass Frömmigkeit und Fröhlichkeit, Heiligkeit und Ausgelassenheit, Buße und genüssliche Freude, Hingabe und Leichtigkeit nicht zusammenpassen, prägt immer noch so manchen Teil der Christenheit.
Dieser Jesus, den Gott in die Welt sendet, steht im echten Gegensatz zu Johannes. Er verkörpert die Lebensfreude, die Zuwendungskraft, die Fähigkeit zum Genuss, die ausgelassene Freude – gepaart mit überschwänglicher Liebe zu seinem Gott und dessen Wort!
Der Kleinste in diesem angebrochenen Königreich der Freude ist größer als Johannes der Täufer es je sein konnte! (Mt.11,11)
Diesen Artikel habe ich für die Zeitschrift „Insist“ geschrieben, erschienen in Ausgabe April 2020 #02