Der Streit um Corona

Wahrscheinlich ist es uns allen inzwischen aufgefallen: Corona scheidet die Gemüter! Ein Riss geht durch die Gesellschaft, Fronten verhärten sich und die Emotionen schlagen immer höhere Wellen. Vor kurzem sah ich einen Bericht, wie Impfgegner Ärzte und Krankenschwestern in einem mobilen Impfbus angegriffen und an ihrer Arbeit gehindert haben. Das war schon irgendwie krass!

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Und der Riss geht zum Teil auch durch christliche Gemeinden. Wenn immer mehr Gottesdienste auf die 3G Regel wechseln, werden die Probleme sichtbar. Wir erleben das Phänomen, daß trotz aller Verbundenheit in Glaubensfragen, in Heilsfragen und den großen dogmatischen Themen eine neue Unversöhnlichkeit entsteht über der Haltung zu Corona. Irgendwie ist diese Corona-Frage näher, persönlicher, intimer als die Frage nach der Universalität des Heils, dem Verständnis vom Abendmahl oder der Diskussion um die Taufe.
Unter denen, die sich vehement gegen die Impfung oder die Coronamaßnahmen wenden, entdecke ich vor allem zwei Gruppen:

1. Das Problem mit dem Zwang

Die erste Gruppe ist vor allem besorgt um ihre Freiheit. Man sieht in den Corona-Maßnahmen oder den geforderten Tests einen Zwang. Und die Empfindung von Zwang wird sofort als Gefährdung demokratischer Strukturen und der persönlichen Freiheit angesehen. Die als Zwang empfundenen Maßnahmen sind für sie ein Indikator für die Erosion unserer Demokratie und unserer Selbstbestimmtheit. Aber genau hier liegt für mich der Denkfehler. Unser gesamtes gesellschaftliches Leben wird begleitet und geformt von Freiheiten und Zwängen. Das war es schon immer! Wir hatten bisher nur ein anderes Wort für diese Zwänge verwendet. Wir nennen sie „Gesetze“.
Bild von <a href="https://pixabay.com/de/users/geralt-9301/?utm_source=link-attribution&amp;utm_medium=referral&amp;utm_campaign=image&amp;utm_content=2546124">Gerd Altmann</a> auf <a href="https://pixabay.com/de/?utm_source=link-attribution&amp;utm_medium=referral&amp;utm_campaign=image&amp;utm_content=2546124">Pixabay</a>Wir alle müssen beim Autofahren einen Gurt anlegen! Das ist Gesetz, und damit Zwang. Unsere Kinder müssen auf einer Sitzerhöhung im Auto sitzen, auch das ist Gesetz und damit Zwang. Der Motorradfahrer muß mit Helm fahren und das Fahrrad muß nachts beleuchtet sein. Sonst ist eine Teilnahme am Straßenverkehr ausgeschlossen. Diese Zwänge dienen zum Schutz und zur Sicherheit der einzelnen Mitglieder der Gesellschaft. Und sie sind weitreichend, weil sie den Großteil der Gesellschaft betreffen.
Jugendliche unter 16 Jahren sind in Restaurants gezwungen, nur nichtalkoholische Getränke zu sich zu nehmen. Kinder ab sechs Jahren werden dazu gezwungen, in die Schule zu gehen. Wir sind gezwungen, bei Rot an der Ampel anzuhalten und wir werden gezwungen, zwischen März und September unsere Hecken im Garten in Ruhe zu lassen. Auch diese Gesetze sind auf dem Hintergrund von Schutzabsichten erlassen worden: Sie schützen den jugendlichen Körper vor den Gefahren des Alkohols, garantieren die Bildung für jedermann, schützen die Verkehrsteilnehmer im Straßenverkehr und schützen die Brut der Vögel. Aber der Begriff „Zwang“ unterstellt sofort böse Absichten und erzeugt viel eher das Gefühl der Einschränkung, als wenn wir von Gesetzen sprechen. Jedem vernünftigen Bürger ist klar, daß eine Gesellschaft nur im Rahmen von Gesetzen funktioniert.

 

Gesetze, die eine Gesellschaft zu bestimmten Dingen verpflichten als Zwänge zu bezeichnen, spiegelt für mich eher die Erosion differenzierter Sprache und differenzierten Empfindens wider. Ich kann nicht verstehen, warum ein weiteres Gesetz, nämlich die Verpflichtung zum Maskentragen an bestimmten Orten und in bestimmten Situationen, plötzlich die Demokratie und die Freiheitsrechte infrage stellen soll. Es ist ein Gesetz mehr zu den vielen anderen Gesetzen, die zum Funktionieren unserer Gesellschaft beitragen. Und es ist erst recht verwunderlich, warum diese Personen so viel Zwang verspüren im Rahmen einer Gesellschaft, in der es noch nie zuvor in der Menschheitsgeschichte so viel Freiheiten und Möglichkeiten für den einzelnen Bürger gab. Nennt mir eine Zeit oder eine Epoche, in der die Menschen mehr Freiheiten und Entfaltungsmöglichkeiten hatten als heute! Genau diese Gesetze, die mich einerseits zu etwas verpflichten, ermöglichen mir andererseits so viel Freiheiten. Es ist Freiheit für meine Kinder, wenn die Autofahrer am Morgen gezwungen sind, bei Rot anzuhalten, um den Pulk der Erstklässler über die Straße gehen zu lassen! Und es ist Freiheit für meine Kinder, wenn sie gezwungen werden, in ihrem sechsten Lebensjahr in die Schule zu gehen. Es eröffnet ihnen ganz viele Perspektiven für ihre Zukunft. Es eröffnet Ihnen zukünftige Freiheiten!

Es ist eine falsch verstandene Freiheit, die nur die Freiheit des Moments im Blick hat. Die heutige Verpflichtung und damit verbindende Unfreiheit ist oftmals gerade die Garantie für zukünftige Freiheiten! Es geht nicht um die Freiheit in jedem Moment, sondern manchmal auch um den Verzicht auf Freiheiten zum Schutz künftiger und größerer Freiheiten! Wer aktuelle Maßnahmen als Zwang versteht und sich darum verweigern möchte, merkt nicht, daß er künftige Freiheiten oder die Freiheit anderer ernsthaft gefährdet.

2. Das Problem mit Unterschiedlichen Zugängen zur Realität

Es gibt aber noch eine zweite Gruppe und der steht man deutlich machtloser gegenüber! Sie gehen einen Schritt weiter. Für sie sind die Coronamaßnahmen nicht nur Zwang, sie vermuten hinter all den Maßnahmen Kalkül. Mit dem Impfstoff werden Chips implantiert, die Gesellschaft soll von der Regierung vergiftet werden, es findet die große Gehirnwäsche statt oder sonstige Verschwörungstheorien. In Gesprächen mit diesen Personen ist mir aufgefallen, daß eine vernünftige Diskussion nicht mehr möglich ist. Sie sind in einer Blase, die ihnen die Richtigkeit ihrer Theorien immer wieder zurückspiegelt. Es hat keinerlei Auswirkung, diesen Personen die Absurdität ihrer Überzeugungen deutlich zu machen. Hier wird die Ebene der Rationalität verlassen und das gesamte Denken und Empfinden über Corona ist in eine andere Ebene gerutscht. Nicht mehr der Verstand oder die Vernunft sind Gesprächspartner, sondern »mythologische« Teile der Persönlichkeit.

Das Ganze hat mich sehr ins Nachdenken gebracht: wenn ich es sehr vereinfache, habe ich den Eindruck, daß es innerhalb der Menschheit zwei Zugänge gibt, wie diese zu Überzeugungen gelangen. Da gibt es zum einen den rationalen Zugang zu Informationen und den daraus gewonnenen Überzeugungen. Kriterien wie Sachlichkeit, Fundiertheit, Rationalität, Objektivität, Beobachtung Deduktion oder Induktion spielen hier eine große Rolle. Diese Personengruppe folgt dem Narrativ von objektiver Wirklichkeit und einer Eindimensionalität bzw. Eindeutigkeit des Seins.

Daneben gibt es einen (und ich bleibe hier bei diesem Ausdruck) mythologischen Zugang zu Informationen und Überzeugungen. Mythologisch deswegen, weil eine zweite oder andere Wirklichkeit hinter den Dingen vermutet wird. Hinter der Beobachtung wird noch etwas anderes gesehen als das Offensichtliche. Die angebliche Sachlichkeit, Rationalität oder Objektivität werden beim mythologischen Zugang eher als Verschleierung der eigentlichen Wirklichkeit betrachtet. Diskussionen auf rationaler Ebene bleiben wirkungslos, weil man seine Erkenntnisse und Überzeugungen auf einer ganz anderen Ebene gewonnen hat. Daran prallen alle Argumente, alle Objektivität immer wieder ab. Diese Gruppe folgt dem Narrativ einer verborgenen Wirklichkeit, einer Mehrdimensionalität bzw. Mehrdeutigkeit des Seins. Dieser Narrativ bestimmt nun auch den Umgang mit dem scheinbar Offensichtlichen und Objektiven. Man fühlt sich dieser eindimensionalen Wahrnehmung überlegen, weil man glaubt den Dingen wirklich auf den Grund gehen zu können, jenseits der vordergründigen Eindeutigkeit.

Es wäre übrigens auch spannend, die Wählerschaft und Mitglieder der großen politischen Parteien anhand dieser Zugänge einmal zu untersuchen!

Nun ist es natürlich so, daß auch Menschen, die in die Kirche gehen einen dieser beiden Zugänge favorisieren. Menschen mit dem rationalen Zugang landen schwerpunktmäßig in anderen Gemeinden als Menschen mit dem mythologischen Zugang.  Für mich wäre eine Landeskirche oder landeskirchliche Gemeinschaft eher auf der Seite des rationalen Zugangs und eine stark charismatische Gemeinde eher auf der Seite des mythologischen Zugangs (und auch hier ist mir bewusst, daß das eine Pauschalierung und Vereinfachung ist). Und bisher konnten wir voneinander lernen und uns mit diesen verschiedenen Zugängen ergänzen und inspirieren. Mit Corona hat sich das Ganze aber auf ein Spielfeld verlagert, das viel persönlicher und bedrohlicher wird.

Bild von M G auf Pixabay

Bisher hat es wenig gestört oder war nur wenig bedrohlich, wenn Christen mit dem mythologischen Zugang in der Musikindustrie eine Verschwörung vermutet haben und auf der Suche waren nach satanischen Botschaften in rückwärts abgespielten Langspielplatten. Und ich habe aus erster Hand viele weitere solcher Überzeugungen miterlebt: Illuminatis, die im Hintergrund die Weltherrschaft vorbereiten; das Unglück in Tschernobyl war der in Offenbarung 8 vorhergesagte Stern Wermut; bestimmte Politiker waren der Antichrist oder sein Prophet; Gog aus Magog waren Russland oder China, die einen Krieg gegen Israel vorbereiten; in Amerika lagert schon lange der jüdische Tempel, der wieder auf dem Tempelberg aufgebaut wird; die Summe der Buchstaben des Wortes »Computer« ergeben die Zahl 666 und so vieles mehr.

Aber irgendwie hat es die Christenheit und auch die Gesellschaft wenig gestört, wenn Christen in ihrer eigenen Blase derartige Theorien verbreitet und geglaubt haben. Die Verschwörungstheorien zu Corona und der Impfung gegenüber passen natürlich ganz ins System. Mit einem hellwachen und daueralarmierten eschatologischen Geist wartet man nur auf das nächste größere oder sogar globale Geschehen, hinter dem man dann eine verborgene Wahrheit vermutet, die es nun gilt als Kinder des Lichts zu entlarven. Insofern ist Corona ein gefundenes Fressen für ein besonders stark ausgeprägtes mythologisches Mindset. Aber diesmal betrifft diese Herangehensweise uns alle! Es ist nicht länger eine Weltsicht, die hinter Kirchenmauern oder bei Diskussionen im Hauskreis zu Tage tritt. Plötzlich verweigern diese Christen sich impfen zu lassen, Masken zu tragen und betrachten all diejenigen, die es tun als Verführte. Den anderen wird vorgeworfen in ihrer Eindimensionalität und Rationalität die eigentliche Wahrheit hinter diesen Geschehnissen zu übersehen.

In den Texten der Beatles eine versteckte satanische Botschaft zu vermuten ist eines, aber sich nicht länger an Schutzmaßnahmen der Gesellschaft zu beteiligen und sich gegen eine Impfung stark zu machen, ist etwas ganz anderes. Hier verlässt die mythologische Sichtweise die Privatsphäre und wird zum gesellschaftlichen Problem. Und ich vermute, daß die kirchliche Welt nach Corona nie mehr dieselbe sein wird, weil sich anhand dieser Krise die Gefährlichkeit des mythologischen Zugangs offenbart. Wie in allen Religionen verleitet der rationale Zugang zwar zur Lauheit und Abgeklärtheit, der mythologische Zugang aber zum Fundamentalismus und zur Radikalität. Und das ist eben das Brandgefährliche. Es ist schwer, hinter diese Erkenntnis zurückzukehren. Und natürlich sind nicht alle Christen mit rationalem Zugang lau oder abgeklärt und lange nicht alle Christen mit mythologischem Zugang sind fundamentalistisch und radikalisiert. Aber an diesem wachsenden Schisma wird sich nur etwas ändern, wenn wir es wieder beherzigen, miteinander im Gespräch zu bleiben, aufeinander zu hören, offen zu bleiben für Argumente und Verständnis entwickeln für die unterschiedlichen Sichtweisen. Dort wo sich Positionen bereits radikalisiert haben, wird dieses Gespräch nur schwer möglich sein. Das Christentum hat die letzten 2000 Jahre überstanden, weil die große Mehrheit zu dieser Art Gespräch fähig war. Und doch hatte die Theologiegeschichte Momente, wo sich radikalisierte Personen und Positionen nicht versöhnen ließen. An dieser Unversöhnlichkeit leidet die Kirche zum Teil noch heute. Ich wünsche mir, daß wir in einigen Jahrzehnten nicht mit dem gleichen Schmerz auf die Coronajahre zurückblicken!

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