Produziert progressive Theologie Atheisten?

Glaubensdilemma

In den vergangenen Jahren begegnen mir immer mehr Christen, die sich in einem gewissen Dilemma befinden. Sie haben irgendwann festgestellt, dass sich an ihrem Glauben etwas verändert hat. Ihr Christsein weist eine bestimmte Art von Symptomatik auf. Sie merken zum einen, dass sie nicht mehr mit der gleichen Unbeschwertheit und Eindeutigkeit die Bibel lesen können.  Sie stoßen auf Aussagen oder Texte in der Bibel, die noch vor Jahren problemlos in den Glauben integriert werden konnten und bei denen man heute stutzt oder innerlich nicht mehr recht mitgehen kann. Sie merken zum anderen, dass sich ihr Bild von Gott verändert hat. Es fällt plötzlich schwer, gewisse (vor allem gewalttätige) Gottesvorstellungen in den eigenen Glauben zu integrieren, die man früher ohne groß zu überlegen akzeptiert hat. Oder man sehnt sich zunehmend nach authentischen und ehrlichen Glaubenserfahrungen und ist im Laufe der Jahre zu vielen geistlichen Fassaden begegnet. Oder man spürt den Wunsch nach größerer Toleranz und Wertschätzung den Menschen außerhalb des Glaubens gegenüber und es fällt zunehmend schwer, alles unter der Verdammnis zu sehen, was nicht den Stempel unsere Glaubensvorstellungen trägt.

Was hier in den meisten Fällen geschieht ist eine gewisse Entfremdung demgegenüber, was viele Jahre im Glauben Halt und Orientierung gegeben hat. Menschen spüren, dass sie in ihrem eigenen Glauben nicht mehr richtig zu Hause sind. Man ist aus einigem herausgewachsen und gewisse alte Überzeugungen lassen sich nicht mehr so schnell passend machen. Dazu mischen sich auch Enttäuschungen, Frustrationen oder schlechte Erfahrungen, die man in oder mit bestimmten christlichen Kreisen gemacht hat. Und am Ende kann es passieren, dass dieser Glaube sich abkühlt und die lebenswichtige Komponente der Begeisterung und Leidenschaft verloren geht.

Das Ziel von progressivem Glauben

Darum ist es so wichtig, dass sich Glaube weiterentwickelt, dass er lernt das zu überwinden, was sich an Hindernissen aufgebaut hat. Man muss im wahrsten Sinn des Wortes lernen weiter zu glauben, mit seinem Glauben vorwärts zu schreiten, was die wörtliche Übersetzung von progressiv bedeutet. Progressiver Glaube ist in dem Sinne nichts anderes wie ein Glaube, der in die Freiheit führt.

Bei progressivem Glauben darf es nicht darum gehen, einfach nur anders zu glauben oder ja nicht mehr das zu glauben, was man früher geglaubt hat. Progressiver Glaube sollte die notwendige Weiterentwicklung des Glaubens sein, damit eine neue Leidenschaft und Begeisterung für Jesus und sein Königreich entstehen kann. Egal wie die konkreten Inhalte progressiver Theologie aussehen, das Ziel muss immer Leidenschaft für Jesus sein!

Progressive Theologie als Gleitfläche zum Atheismus?

Nun gibt es in diesem Zusammenhang aber regelmäßig Veröffentlichungen, Bücher, Blogartikel oder Podcasts, die progressivem Glauben immer wieder das gleiche unterstellen: er ist nicht die Weiterentwicklung des Glaubens zu neuer Leidenschaft, sondern nur die Durchgangsstation zum Atheismus. Und genau auf diese Unterstellungen möchte ich mit diesem Blogartikel reagieren. Ich beziehe mich dabei ganz stark auf einen Blogartikel von Alisa Childers mit dem Titel „Was progressive Christen mit Atheisten verbindet“, der deutschsprachig im Blog von Paul Bruderer (Daniel Option) veröffentlicht wurde.

Und ja es stimmt, einige Menschen, die sich zuletzt zum progressiven Lager gezählt haben, sind inzwischen beim Atheismus oder Pantheismus gelandet.

Aber:

1. Menschen sind schon immer vom Glauben abgefallen

Dass jemand vom Glauben wegkommt oder den Glauben hinter sich lässt, muss noch überhaupt nichts über den Charakter oder die Qualität dieses Glaubens aussagen. Schon im Neuen Testament wird uns berichtet, dass Menschen vom Glauben abgefallen sind. Daraus Rückschlüsse auf die Gefährlichkeit ihres Glaubens zu schließen ist fadenscheinig.
Eine zentrale Figur unter den Nachfolgern Jesu, nämlich Judas, hat Jesus verraten und ihn verleugnet. Am Ende landete er sogar beim Selbstmord. Nun würde aber niemand behaupten, dass der Glaube, den Judas an Jesus hatte, genau dieses Wegkommen vom Glauben oder sogar die Selbsttötung als Folge hatte. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.

Paulus kann berichten, dass einer seiner Mitarbeiter die Welt liebgewonnen hat und wieder andere sind bei der gefährlichen Lehre der Gnosis gelandet. Niemand würde doch jetzt den Rückschluss ziehen und sagen, dass der Glaube, den Paulus verkündigt, und dem sich viele angeschlossen haben der Wegbereiter für den Glaubensabfall oder eine Entwicklung zum Gnostiker wäre.

Den Abfall vom Glauben oder das Abrutschen in eine Häresie ist ein Phänomen, dass die gesamte Kirchengeschichte kennt. Man macht es sich zu einfach, daraus negative Rückschlüsse auf die Gesundheit oder die Qualität des Glaubens zu ziehen, den man zuvor hatte.

Und ja, es ist bedauerlich um jeden Menschen, der den Glauben verliert!

2. Immer wieder die gleichen Protagonisten

Tatsächlich gibt es bekannte Persönlichkeiten, die vom Glauben abgefallen sind. Ob Ehepaar Gungor, der Sohn von Toni Campolo oder andere. Aber es ist schon auffällig, dass immer auf die gleichen Personen zurückgegriffen wird, um zu belegen, wie gefährlich progressiver Glaube ist. Bringt doch mal ein paar neue Beispiele, wenn der Glaubensabfall progressiver Christen so gefährlich und häufig ist. Wir ärgern uns doch auch, wenn in den säkularen Medien immer wieder die gleichen Vorfälle aus der Schublade gezogen werden, um das Christentum zu denunzieren, selbst wenn die Vorfälle Jahre zurückliegen und der Kontext ein ganz anderer ist als der aktuelle. Es wäre so ähnlich, als müsste dauernd Bill Hybels dafür herhalten, ein bestimmtes Leiterschafts- oder Gemeindemodell madig zu machen.

3. Die Wurzeln gehen viel weiter zurück

Für mich ist das entscheidende Argument, dass die Wurzeln für den Abfall vom Glauben gerade nicht in der progressiven, sondern häufig in der evangelikalen Vergangenheit liegen. Das wird so gerne übersehen! Manche Menschen haben Schaden erlitten in dem evangelikalen Umfeld, in dem sie aufgewachsen sind. Da sind so viele ungünstige Faktoren zusammenkommen, dass der Glaube und auch die Seele von Menschen Schaden genommen haben. Das Krebsgeschwür, das weitergefressen und am Schluss den Glauben kaputt gemacht hat, das liegt ganz oft in der evangelikalen Vergangenheit und Theologie. Selbst die Hinwendung zu progressiver Theologie konnte den Tod des Patienten nicht mehr verhindern! Aber der Tod war schon vorher im Topf. Nun der progressiven Phase die Schuld für den Glaubensabfall zu geben ist einfach kurzsichtig. Man kann progressiver Theologie vorwerfen, dass es ihr nicht gelungen ist, den Schaden wieder gut zu machen, aber sie als Ursache für den Glaubensabfall der dauernd erwähnten Protagonisten anzuführen, ist einfach nicht redlich. Keiner von denen hat progressiv begonnen, sondern evangelikal. Es würde also Sinn machen, nicht den Splitter in progressiver Theologie zu suchen, sondern den Balken in evangelikaler Theologie, der zu viele Christen entweder lautstark oder auf ganz leisen Sohlen aus den Kirchen verschwinden lässt.
Und damit sage ich überhaupt nicht, dass evangelikale Theologie per se schädlich ist. Ich weise immer wieder darauf hin, dass es bei progressivem Glauben darum geht, den Glauben weiterzuentwickeln und wie bei einem Umzug manches zu entsorgen, aber ganz vieles, das kostbar ist, auch mitzunehmen und auch in Zukunft wertzuschätzen. Aber wir alle wissen, dass das kleine Steinchen im Schuh das Laufen unmöglich machen kann. Und manchmal muss dieser Stein entfernt werden, um nicht die gesamte Lauferfahrung zu verderben.

4. Angstszenarien

In dem oben erwähnten Artikel erlebe ich genau das, was so viele betroffene Christen an der evangelikalen Szene kritisieren: Er arbeitet mit Angst, Drohungen und Schreckenszenarien. Es werden schockierende Beispiele erzählt, auf die schlimmsten Gefahren hingewiesen und die Extreme aufgezeigt. Nach dem Lesen solcher Artikel fühlt man sich im ersten Moment verängstigt, verunsichert und frägt sich, ob man tatsächlich Gott und der Bibel davongelaufen ist. Angst lässt verstummen. Die dargestellten Biografien, die scheinbar wegen der progressiven Theologie beim Atheismus gelandet sind, machen nicht nur mundtot, sondern oft auch gedankentot. Den Zweifel, den man verspürt, das innere Dilemma, die bohrenden Fragen werden im Angesicht der Angst zum Schweigen gebracht. Wenn man auf diesem Weg am Ende fast unweigerlich beim Atheismus landet, lässt man am besten gleich die Finger davon. Irgendwie erscheint der blutleere Glaube, für den man schon länger keine Begeisterung aufbringen kann, immer noch gottgefälliger zu sein als der drohende Atheismus. Aber das Schweigen der Gedanken kann sich irgendwann rächen. Irgendwann brechen sich die Fragen oder Ungereimtheiten im Glauben Bahn und gerade dann wird vielleicht unnötigerweise das Kind mit dem Bad ausgeschüttet.

5. Progressiver Glaube und progressive Theologie befinden sich in Entwicklung

Progressiver Glaube ist der Versuch mit Ungereimtheiten im eigenen Leben, im Vollzug des Glaubens und im Umgang mit der Bibel zurechtzukommen. Und dieser Versuch reicht von innovativen und kreativen Ansätzen bis dahin das zu retten, was noch zu retten ist. Verschiedene Ansätze treten hervor und vieles ist in Entwicklung. Aber dahinter steht der Wunsch, mit dem eigenen Glauben weiterzukommen, weil er einem immer noch zu kostbar ist, als ihn schleichend vor die Hunde gehen zu lassen.

Mit meinem Movecast versuche ich diesen Prozess zu begleiten und hoffentlich innovative Ansätze zu entdecken. Und progressiver Glaube entwickelt sich dabei weiter. Wir entdecken, dass progressiver Glaube die Ergänzung durch geisterfülltes Leben braucht. Wenn der Heilige Geist uns in alle Wahrheit führen möchte, müssen wir ihn an Bord haben, wenn wir unseren Glauben weiter entwickeln wollen. Und progressivem Glauben muss es am Ende gelingen, Halt, Trost, Orientierung und Kraft zu bieten, wenn die Stürme des Lebens kommen. Er darf kein Gedankenspiel sein, sondern muss seine Tragfähigkeit im Leben und im Sterben unter Beweis stellen.

Aber übrigens: das gilt für alle anderen Glaubensüberzeugungen ebenso. Egal ob evangelikal, missional, pfingstlich oder landeskirchlich. Überall müssen wir uns diese Frage stellen, ob das, was wir glauben und leben immer noch tragfähig genug ist, um uns sicher in die Zukunft zu leiten.

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