„Ich bin klein, mein Herz ist rein“ – Warum es beim Evangelium um mehr geht als um persönliche Errettung.


Einer der wichtigsten Begriffe der ganzen Bibel, der Theologie und unseres christlichen Glaubens ist der Begriff Evangelium. Evangelium ist die verdeutschte Aussprache des griechischen Begriffs euangellion. Das heisst übersetzt: gute Botschaft. Es wäre einmal wichtig zu klären, was denn das Gute an der guten Botschaft ist? Was sollen wir denn da genau verkündigen? Was ist denn an dieser guten Botschaft so attraktiv, dass Gott uns dazu auffordert, sie allen Menschen bis ans Ende der Welt zu erzählen. Und warum fällt es uns gleichzeitig so schwer, zu evangelisieren? Ich glaube es liegt zu einem ganz großen Teil daran, dass wir eine ziemlich eingeschränkte und reduzierte Sicht vom Evangelium haben.
Es gibt einen ganz klassischen Ansatz, wie das Evangelium verstanden wird und der die Ursache für diese verkürzte und reduzierte Sicht des Evangeliums ist. Die meisten heutigen Christen, die sich als bekehrte oder wiedergeborene Christen bezeichnen, glauben an dieses sehr verkürzte Verständnis des Evangeliums. Es ist die Grundlage ihres Christseins und ihrer Verkündigung. Der Kern von diesem Verständnis des Evangeliums ist das Thema Erlösung und Errettung. Was Jesus am Kreuz getan hat ist das Entscheidende und bewirkt, dass der einzelne Mensch Vergebung seiner persönlichen Schuld erlebt und wieder mit Gott versöhnt ist. Bei diesem Verständnis ist das Evangelium vor allem das Evangelium von der Erlösung.
In der Lausanner Verpflichtung, einem ganz wichtigen Dokument der evangelikalen Bewegung steht zum Beispiel geschrieben: Evangelisieren heißt, die gute Nachricht zu verbreiten, dass Jesus Christus für unsere Sünden starb und von den Toten auferstand nach der Schrift und dass Er jetzt die Vergebung der Sünden und die befreiende Gabe des Geistes allen denen anbietet, die Buße tun und glauben. […] (Lausanner Bewegung Deutschland. „Lausanner Verpflichtung 1974“)
Im deutschsprachigen Raum wird dieses auf die Erlösung konzentrierte Verständnis des Evangeliums vor allem durch die sogenannten »Vier geistlichen Gesetze« zum Ausdruck gebracht. Ein kleines Heftchen, dass das ganze Evangelium in vier einfachen Schritten zum Ausdruck bringt. Diese vier Schritte zielen ausschließlich auf die Erlösung des Menschen ab. Alles was hier über die Erlösung gesagt wird ist absolut richtig und korrekt. Das ist nicht falsch. Aber es ist trotzdem sehr problematisch. Warum?
Zum einen spricht dieses Verständnis des Evangeliums Themenbereiche an, die für den heutigen Menschen überhaupt nicht mehr relevant oder nachvollziehbar sind. Im Zentrum steht nämlich der Begriff Sünde, die die Menschen von Gott trennt. Und die Erlösung ist hier im wahrsten Sinn des Wortes eine Lösung. Die Lösung für das Problem Sünde. Nun haben heutige Menschen aber überhaupt kein Bewusstsein mehr für diesen alten Begriff Sünde. Sie haben kein Problem mit der Sünde! Für sie hängt Sünde mit altmodischen Moralvorstellungen zusammen, die nun heutzutage wirklich keiner mehr möchte. Ich muss den Menschen also erst einmal eine Problematik einreden, damit ich sie im zweiten Schritt durch die Erlösung wieder davon befreien kann. Das ist zwar theologisch richtig, aber für unsere Verkündigung ziemlich unrelevant und schwierig. Und irgendwie spüren wir das auch alle und darum fällt es uns so schwer, in dieser Art und Weise die gute Botschaft zu verkündigen.
Und das führt uns auch zum zweiten Problem dieser Darstellung des Evangeliums: Sie ist in der Tat völlig verkürzt. Wer das Evangelium auf die individuelle Erlösung des Menschen reduziert, malt am Ende dann eben doch ein falsches Bild des Evangeliums. Das Evangelium ist so viel mehr als die Erlösung des einzelnen Menschen. Aber diese Reduzierung des Evangeliums auf die vier geistlichen Gesetze hat dazu geführt, dass wir ganz entscheidende Aspekte der guten Botschaft übersehen haben. Für zu viele Christen ist das Evangelium nichts anderes, als sicherzustellen, dass das eigene Herz rein und die Beziehung zu Gott wieder in Ordnung gebracht ist. Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein! Weiter geht der Blick nicht.
In diesem Sinne ist das Evangelium vor allem eine gute Botschaft für mich. Gott sendet seinen Sohn in diese Welt und lässt ihn sterben, gerade für mich. Und wenn es nur mich gegeben hätte, dann hätte Gott auch seinen Sohn gesandt. Diese verkürzte Darstellung des Evangeliums hat zu einem ganz individualisierten Glauben geführt: Deine Erlösung, deine Beziehung zu Gott, dein Seelenheil, deine Vergebung, dein reines Herz und deine Wiederherstellung.
Bei diesem Evangeliumsverständnis hat man vor allem die Zukunft, die Ewigkeit in Blick. Dadurch ist diese Welt, ihre Beschaffenheit, ihr Zustand und ihre Zerbrochenheit nicht von großem Interesse, sondern was nach dieser Welt kommt, was im Jenseits auf uns wartet.   Und darum wundert es auch nicht, dass bei diesem klassischen Verständnis von Evangelium soziales Engagement, die Bewahrung der Schöpfung und Frieden nicht sonderlich im Blickfeld ist. Denn bei diesem Verständnis geht es nicht um soziales Engagement, da geht es um die Ewigkeit!
Da ist man entweder evangelikal und evangelistisch oder man ist liberal und sozialdiakonisch. Man darf sich schon um die Armen kümmern, aber entscheidend ist deren Seelenheil. Was nützt es wenn einer genug zu essen hat und am Ende doch verloren geht? Man darf sich schon um die Bewahrung der Schöpfung und der Natur kümmern, aber was nützt das, wenn am Ende sowieso alles vergeht und nur der neue Himmel und die neue Erde zählen? Man darf sich schon um Frieden bemühen, aber so entscheidend ist das nicht, denn viel schlimmer als der irdische Tod ist der ewige Tod.
Das Evangelium
Das Wort Evangelium ist keine Erfindung von Jesus oder den neutestamentlichen Autoren. Der Begriff war schon bei den Griechen und ganz besonders bei den Römern bekannt.
Um ein Verständnis vom Begriff Evangelium zu bekommen müssen wir zurück zum Beginn des römischen Reiches. Wenn man solch ein großes Reich aufbauen möchte, zusammenhalten möchte, es vergrößern möchte, braucht es einen einheitsstiftenden Kult (Kultur) und eine einheitstiftende Erzählung, eine sog. Narrative. Die Römer hatten solch eine einheitsstiftende Erzählung, solch eine Narrative. Die römischen Cäsaren waren Meister darin, solch einen Kult und solch eine Geschichte zu kreieren, die dem ganzen Volk Einheit und Bestimmung und Vision gab. Und diese Narrative ging folgendermaßen:
Der erste Kaiser dieses römischen Reiches war Julius Caesar. Und ihm wurde nun nachgesagt, dass seine Geburt etwas ganz Einmaliges war. Caesar war von den römischen Göttern geboren.  Caesar war von den Göttern gesandt mit einem ganz speziellen Auftrag. Für die Römer war Caesar göttlicher Herkunft. Die römischen Kaiser hielten sich tatsächlich für göttlich. Und wenn Caesar als erster römischer Herrscher göttlicher Herkunft war, wurden alle folgenden römischen Kaiser als Söhne Gottes bezeichnet. Sohn Gottes war also ein politischer und religiöser Begriff zugleich, der deutlich machte, dass dieser Herrscher in der Kraft und der Gunst der Götter regierte. Aber die römischen Kaiser wurden nicht nur als Sohn Gottes bezeichnet, sondern sie gaben sich auch den Titel «Soter», was so viel wie Retter oder Erlöser oder Messias bedeutet. Somit war der römische Kaiser die große Erlöserfigur, der universellen Frieden und Wohlstand brachte.  Auf vielen römischen Münzen stand der Satz: «Frieden durch Sieg». Und mit Sieg war natürlich der militärische Sieg gemeint. Auf diese Weise eroberten die Römer ein Land und ein Volk nach dem anderen und über allem stand der sogenannte Pax Romana, der römische Frieden. Und wenn man den Römern widerstanden hat, dann wurde man eben mit dem Schwert getötet oder gekreuzigt. Insofern kam es bei diesem Frieden sehr darauf an, auf welcher Seite des Schwertes man sich befunden hat.   
Und wann immer ein Kaiser ein neues Gebiet erobert hatte und es dem römischen Reich hinzufügte, wurde diese Nachricht Evangelium genannt. Gute Botschaft.  Das Evangelium war eine gute Botschaft, weil es eine Siegesbotschaft war.
Beim Sohn Gottes dachte man an den römischen Kaiser und bei Evangelium dachte man an seinen Sieg, seine Siegesbotschaft, dass sein Reich weiter gewachsen ist und der römische Frieden vergrößert wurde.
Und genau in diese Zeit hinein kommt Jesus, der Sohn Gottes und verkündigt das Evangelium.
Und nun muss man sich den allerersten Satz des ältesten Evangeliums ansehen, der Satz, der dieses ganze Buch einleitet: Mk.1,Dies ist der Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes.
In diesem Satz sind alle Begriffe, die sonst für den römischen Kaiser gelten aufgegriffen und auf Jesus von Nazareth bezogen: Er ist Sohn Gottes, er ist Christus (das griechische Wort für das hebräische Messias, was soviel wie Erlöser oder Retter (soter) bedeutet), und er bringt das Evangelium. Im Angesicht des römischen Reiches solch einen Satz aufzuschreiben, war nicht nur höchst politisch, es war auch höchst gefährlich. Politischer kann ein Satz nicht sein als dieser erste Satz im Markusevangelium. Und da behaupten Christen immer noch, Glaube und Nachfolge seien nicht politisch!  
Die Geschichte von Jesus ist eine Gegengeschichte und eine Gegenkulturzur damaligen Welt, zum damaligen Weltreich. Der wahre Retter, der wahre Sohn Gottes und das wirkliche Evangelium hängen mit diesem Handwerker aus Nazareth zusammen.
Das Evangelium ist nicht nur die gute Botschaft deiner persönlichen Erlösung und Sündenvergebung, es ist vielmehr der Anfang eines völlig neuen Reiches und eines neuen Weltherrschers, dessen Königreich und dessen Siegesbotschaft aber nicht in seiner militärischen Macht begründet ist und in der Unterdrückung all derer, die gegen ihn sind, sondern in seinem Erbarmen, seiner Liebe und seiner Gerechtigkeit.
Denkt beim Evangelium nicht mehr so klein wie bisher, als würde es nur darum gehen, dass möglichst viele in den Himmel kommen und von ihren Sünden gerettet werden. Es geht vielmehr darum, in dieser Welt ein neues Reich, neue Verhältnisse, ein neues System, eine neue Ordnung, eine neue Kultur und eine neue gute Herrschaft aufzurichten. Das ist die gute Botschaft.
Es geht beim Evangelium eben nicht nur um Erlösung, das ist eine Verkürzung und eine Einseitigkeit. Es geht beim Evangelium vor allem um das Reich Gottes, die neue gute Herrschaft Gottes. Das ist der zentrale Inhalt des Evangeliums.
Jesus hat nicht einfach nur das Evangelium verkündigt, er hat das Evangelium vom Reich Gottes verkündet. Viele Bibelstellen bringen das immer wieder zum Ausdruck:         
Mt 4,23 Und er zog umher in ganz Galiläa, lehrte in ihren Synagogen und predigte das Evangelium von dem Reich und heilte alle Krankheiten und alle Gebrechen im Volk.      
Mt 9,35 Und Jesus zog umher in alle Städte und Dörfer, lehrte in ihren Synagogen und predigte das Evangelium von dem Reich und heilte alle Krankheiten und alle Gebrechen.    
Mt 24,14 Und es wird gepredigt werden dies Evangelium vom Reich in der ganzen Welt zum Zeugnis für alle Völker, und dann wird das Ende kommen.   
Mk 1,15 und sprach: Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium!   
 Lk 4,43 Er sprach aber zu ihnen: Ich muss auch den andern Städten das Evangelium predigen vom Reich Gottes; denn dazu bin ich gesandt.   
Lk 8,1 Und es begab sich danach, dass er von Stadt zu Stadt und von Dorf zu Dorf zog und predigte und verkündigte das Evangelium vom Reich Gottes; und die Zwölf waren mit ihm.  
Apg 8,12 Als sie aber dem Philippus glaubten, der das Evangelium vom Reich Gottes und dem Namen Jesu Christi verkündigte, ließen sie sich taufen, sowohl Männer als auch Frauen.
In Jesu Leben und in Jesu Verkündigung geht es um das Evangelium vom Reich Gottes. Das Evangelium ist also nichts anderes wie die gute Botschaft, dass jetzt Gottes Reich, Gottes Herrschaft anbricht. Die damaligen Menschen erlebten die Zerbrochenheit dieser Welt, die ungerechten Verhältnisse, die Ausbeutung, die Unterdrückung, die Gewalt, die Feindseligkeit der Völker, den Machtmissbrauch der Herrschenden, die völlige Verarmung des Volkes durch die Geldgier des Kaisers, tägliche Grausamkeiten, die Einschränkung fast aller Freiheiten, das pure Böse im Handeln ihrer Unterdrücker. Und all diese Elemente des Bösen, des Gewalttätigen, des Menschenverachtenden, des Lebensfeindlichen waren Teil des  politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systems. Und in diese zerbrochene Welt und im Angesicht dieses gewalttätigen Systems spricht Jesus die gute Botschaft hinein, dass ab jetzt ein neues System, eine neue Herrschaft über die ganze Welt in Kraft gesetzt wird, nämlich das Reich Gottes. Jetzt bricht die Herrschaft des Gottes an, der die Liebe ist und Gerechtigkeit in die Welt bringt. Jetzt ist dieses Reich Gottes nahe herbeigekommen. Es steht in den Startlöchern. Das Reich Gottes ist mehr als deine private Erlösung! Das Reich Gottes stellt das gültige System dieser Welt auf den Kopf! Es überwindet das Böse mit Gutem!
Das Evangelium ist so viel mehr, als unser kleines Herz rein zu machen. Das ist es auch. Aber Jesus will uns nicht nur von unserer persönlichen Sünde befreien, sondern er packt die systemische Sünde an, das Böse im System! Warum kann es seit Jahrhunderten passieren, dass Christen sich von dieser Welt abschotten, nachdem sie sich bekehrt haben, anstatt nach dem Reich Gottes, also dem Beginn einer neuen Herrschaft auf dieser Welt zu trachten und seine Gerechtigkeit zu suchen. Die vier geistlichen Gesetze betonen vor allem den Herrschaftswechsel in meinem eigenen Leben. Auf dem Thron deines Lebens sitzt in Zukunft nicht mehr dein eigenes Ich, sondern Jesus. Aber beim Reich Gottes geht es darum, dass auf dem Thron dieser Welt jemand Neues sitzt und dass es um einen Herrschaftswechsel in diesem Kosmos geht.
In diesem Sinne ist das Evangelium eine gute Botschaft für die gesamte Welt! Gott ist schon klar, dass diese Welt, so wie sie ist vergeht und vor die Hunde geht. Aber in diese Welt hinein beginnt Gott ein neues Reich, neue Verhältnisse, ein ganz neues System, eine neue Art zu leben, eine neue Art miteinander umzugehen. In die ungerechten Verhältnisse dieser Welt soll nämlich die Gerechtigkeit Gottes hineinkommen. Und in das sündige System dieser Welt soll die Liebe und das Erbarmen Gottes hineinkommen. Dazu hast du dich bekehrt und nicht nur dein Ticket in den Himmel gelöst. Und darum sind die vier geistlichen Gesetze so eine gefährliche Verkürzung des Evangeliums. Jesus hat nie gesagt: tut Buße, damit ihr in den Himmel kommt. Jesus hat immer gesagt: tut Buße, denn das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen. Buße tun heißt nicht einfach, die persönlichen Sünden von gestern und heute zu beichten, sondern die gesamte Gesinnung zu verändern, auszusteigen aus dem System der Ungerechtigkeit auf dieser Welt, politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich und persönlich, und ein Teil dieser Bewegung zu werden, die diese neuen Herrschaft und dieses neuen Systems vorantreibt und voranbringt! Wir tun Buße, nicht nur damit wir selbst wieder in Ordnung kommen, sondern wir wenden uns damit ab von dem verdrehten System dieser Welt und wenden uns einer neuen Ordnung und einer neuen Gerechtigkeit zu, die sich in uns selbst verwirklicht und über uns hinaus in dieser Welt. Das ist eine viel größere Buße als die Beichte von den paar Sünden die mir gerade einfallen.
 In diesem Sinne müssen wir das Evangelium neu verstehen und neu erzählen. Wir brauchen eine neue Geschichte, eine Narrative, die uns eint, die uns zusammenführt, die die Kräfte bündelt und uns motiviert diese gute Botschaft bis in den hintersten Winkel der Welt zu bringen.

2 Kommentare

  1. Ich bin gerade per "Zufall" auf Ihre Seite gestoßen und bin begeistert von dem was Sie schreiben. Sie sprechen mir aus der Seele.

  2. Vielen Dank, vielleicht wäre auch noch mein Podcast von Interesse: Movecast.podbean.com

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