Eine der herausforderndsten Stellen in der Bergpredigt findet sich am Ende von Matthäus 5:
Mat 5:48 Ihr nun sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“
Auf den ersten Blick scheint Jesus auszudrücken, dass seine Zuhörer genauso vollkommen sein müssen wir der allmächtige Gott. Aber wie ist das zu schaffen, dass ein sündiger Mensch so vollkommen und fehlerlos sein kann wie Gott?
Und was bedeutet „vollkommen“ überhaupt? In der Auslegungs- und Predigtgeschichte musste diese Stelle für vielerlei herhalten. Für die einen ging es um moralische Vollkommenheit, für die anderen um sexuelle Reinheit, für wieder andere um einen makellosen Lebenswandel oder dogmatische Korrektheit. Einfach vollkommen. Und da nun wirklich jeder an diesem universellen Vollkommenheitsanspruch scheitert, wird er entweder überlesen oder dahin gedeutet, das jeder sich einfach so intensiv wie möglich anstrengen und bemühen soll, wie es geht.
Aber glücklicherweise legt sich die Bibel immer wieder selbst aus. Was nämlich Matthäus hier in der Bergpredigt zitiert, findet sich bei Lukas in der Feldrede. Beider Male ist der Kontext die Feindesliebe.
Mat 5:43 Ihr wisst, dass es heißt: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen!‘
Mat 5:44 Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen.
Mat 5:45 So erweist ihr euch als Kinder eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne über Bösen und Guten aufgehen und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.
Mat 5:46 Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn habt ihr dafür wohl verdient? Denn das machen auch die Zöllner.
Mat 5:47 Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr damit Besonderes? Das tun auch die, die Gott nicht kennen.
Mat 5:48 Ihr nun sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“
Der Abschluss dieser Aufforderung zu einer großen Liebe ist dann unser Satz mit der Vollkommenheit. Schon hier deutet sich an, dass mit „vollkommen wie Gott“ eher „liebevoll wie Gott“ gemeint sein könnte.
Bei Lukas ist der Kontext folgender:
Luk 6:27 „Doch euch, die ihr mir wirklich zuhört, sage ich: Liebt eure Feinde, tut denen Gutes, die euch hassen!
Luk 6:28 Segnet die, die euch verfluchen! Betet für die, die euch beleidigen! …
Luk 6:35 Ihr aber sollt gerade eure Feinde lieben! Ihr sollt Gutes tun, ihr sollt leihen und euch keine Sorgen darüber machen, ob ihr es wiederbekommt. Dann wartet eine große Belohnung auf euch und ihr handelt wie Kinder des Höchsten. Denn er ist auch gütig gegen die Undankbaren und Bösen.
Luk 6:36 Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist!
Auch hier macht Jesus deutlich, dass seine Jünger nicht nur ihre Freunde lieben sollen, sondern sich eben gerade auch über die Feinde erbarmen. Und Jesus schließt den Abschnitt damit ab, dass wir so barmherzig sein sollen wir Gott.
Wenn es bei Matthäus noch ganz allgemein heißt: „vollkommen sein wie Gott“, dann wir diese Vollkommenheit bei Lukas konkretisiert und als Barmherzigkeit verstanden.
Es geht also nicht um die Aufforderung nach einem vollkommen makellosen und korrekten Leben, sondern darum, sich die Barmherzigkeit Gottes zum großen Ziel zu setzen. Wer vollkommen sein will wie Gott, der muss so barmherzig sein wie er.
Plötzlich ist das Streben nach Vollkommenheit nicht länger die auf mich, nach innen und auf meine Frömmigkeit gerichtete Anstrengung, sondern die Anstrengung für den anderen, die Barmherzigkeit, die ja auf den anderen, den Nächten und sogar den Feind gerichtet ist.
Das ist der Grundtenor der Reich Gottes Botschaft Jesu immer und immer wieder. Das ist auch der Dreh- und Angelpunkt unsre Nachfolge.
Danke!Sehr gut argumentiert und den theologischen Zusammenhang mit der Barmherzigkeit dargestellt!