Leiderfahrungen lösen ganz unterschiedliche Dinge bei uns. Das ist vor allem davon abhängig, ob wir das Leid an uns selbst erleben oder ob wir es bei anderen miterleben. Generell kann Leid zwei große innere Bewegungen auslösen:
Leid löst zum einen eine destruktive Bewegung in uns aus:Wir erleben Verzweiflung, Schmerz, Trauer, Hilflosigkeit, Ohnmacht, Widerwillen, Unverständnis, Wut, Zorn, Zweifel. Diese Gefühle hinterlassen etwas Negatives bei uns, sie reisen Wunden auf, sie wühlen auf, sie bremsen uns und wir können diesem Leid rein gar nichts abgewinnen. Unser einziger Wunsch ist die Vermeidung von solchem Leid oder der Wunsch, alles rückgängig machen zu können. Ganz oft geht es uns so, wenn wir Leid bei anderen miterleben:
Der schweren Krankheit eines Angehörigen.
Dem Tod eines Angehörigen.
Ein schrecklicher Unfall, in den jemand Bekanntes verwickelt ist.
Große Ungerechtigkeit, ein Schicksalsschlag,
Wir fühlen uns dem Leid anderer gegenüber besonders hilflos.
Wir können uns oft nicht einmischen oder nichts daran ändern.
Leid kann aber auch eine konstruktive Bewegung in uns auslösen. Oftmals kommt diese Phase aber erst, wenn wir die erste durchlebt haben. Dann kann Leid auch ein Lehrmeister sein. Leid kann uns zurückführen auf einen gesunden Weg. Eine Leiderfahrung kann ein Warnschuss sein oder ein dickes Hinweisschild, wohin wir uns entwickeln sollten? Es sind aber gerade Todesfälle, die wegen ihrer Endgültigkeit oft keine konstruktive Bewegung auslösen, denn der Verstorbene kann leider nichts mehr daraus lernen oder einen anderen Weg einschlagen und die Hinterbliebenen wollen eigentlich in keiner Weise aus dem Tod eines anderen irgendwie profitieren. Zudem steht der Gewinn an Lebensweisheit oder Veränderung oftmals in keinem Verhältnis zum erlittenen Leid. Und doch bewundere ich diese Menschen, denen es gelingt inmitten von schwierigem Leid einen konstruktiven Weg einzuschlagen.
Immer wieder erlebt man es, dass zwei Menschen die genau gleiche Leiderfahrung machen:
Vielleicht im selben KZ Gefangenen sind,
An derselben Krankheit erkranken,
Den gleichen familiären Todesfall miterleben,
Dieselbe Naturkatastrophe oder denselben Krieg miterleben,
Und doch am Ende ganz anders daraus hervorgegangen sind.
Die einen gebrochen, immer hadernd mit ihrem Schicksal, verbittert und am Glauben gescheitert, Und die anderen haben wieder Boden unter die Füße bekommen, konnten ihr Haupt erheben, konnten ihre Leiderfahrungen hinter sich lassen und sind mit ihrem Leben und ihren Schöpfer versöhnen.
Es ist vollkommen natürlich, dass jede Leiderfahrung mit einer Phase tiefer Trauer, Verzweiflung, Ängsten, Zweifel, Hadern usw. einhergeht. Niemand kann mit der konstruktiven Bewegung beginnen. Man kann die destruktive Bewegung nicht überspringen. Wer das versucht, Trauer oder Zweifel ausklammern möchte, dessen Seele bleibt in einer Sackgasse stecken.
Aber eine destruktive Bewegung, die einen gewissen Raum in unserem Leben einnehmen darf, die kann sich verwandeln in eine konstruktive Bewegung. Ich halte in diesem Zusammenhang die Reaktion von Hiob für vollkommen unangebracht und unmenschlich. Nachdem er vom Raub all seiner Herden und vom Tod all seiner Kinder erfahren hatte, lesen wir folgende Reaktion:
Hiob 1, 20 Da stand Hiob auf und zerriss sein Kleid und schor sein Haupt und fiel auf die Erde und neigte sich tief und sprach: Ich bin nackt von meiner Mutter Leibe gekommen, nackt werde ich wieder dahinfahren. Der HERR hat’s gegeben, der HERR hat’s genommen; der Name des HERRN sei gelobt!
Eigentlich möchte dieser Satz beschreiben, wie ein Mann nach einer Leiderfahrung am Ende wieder Frieden gefunden hat und sich Gott anvertrauen kann. Aber dieser Satz kommt hier zu schnell, zu spontanen, zu geplant. Die Autoren dieser Geschichte überspringen die gesamte Trauerphase, Verzweiflungsphase, Zorn und Schock, den jeder vernünftige Mensch erleben würde und springen sofort zur konstruktiven Bewegung in Hiobs Leben. Es braucht dann noch eine zweite Runde Leiderfahrung, nämlich Hiobs Krankheit, bis in der Geschichte die destruktive Bewegung in Hiob beschrieben wird.
Für Menschen, die an Gott glauben möchten, kommt mit schwierigen Leiderfahrungen aber noch eine ganz andere Thematik hinzu. Je nach Dosis der Leiderfahrungen, je nach Häufigkeit, stellt sich früher oder später die Frage nach dem liebenden Gott. In der Theologie nennt man das die sogenannte Theodizee Frage. Es ist die Frage nach dem liebenden oder auch nach dem gerechten Gott. Im allgemeinen läuft dahinter immer der gleiche Gedankenprozess ab:
1. Es gibt Gott
Folgerung: Gott wirkt in der Welt
2. Gott ist allmächtig
Folgerung: Gott kann Leid verhindern
3. Gott ist gnädig
Folgerung: Gott will Leid verhindern
4. Es gibt Leid
Folgerung: mit Gott kann etwas nicht stimmen
Wie kann es sein, dass ein allmächtiger und gnädiger Gott schreckliches Leid zulässt?In unseren Liedern besingen wir die Barmherzigkeit und Liebe Gottes. In den Evangelien tritt uns ein barmherziger und Alle heilender Jesus entgegen. Wir glauben an eine frohe Botschaft.In unseren Predigten sprechen wir davon, dass Gott nicht nur Liebe hat, sondern die Liebe ist. Uns wird versprochen, dass Gott unsere Gebete erhören wird, und das scheinbar garantiert, wenn zwei eins werden warum sie bitten. Wir sind aufgefordert ihn immerdar zu loben und zu preisen.Aber wie soll das alles gehen angesichts des großen Elendes auf unseren Planeten in der Vergangenheit und Gegenwart? Wie soll das gehen anhand von so vielen unverschuldeten Leid? Die vielen sterbenden, verhungernden Kinder, Aidswaisen, Frauen, die zur Prostitution gezwungen werden, zivile Opfer in Kriegen, die von Mächtigen und Gierigen angezettelt werden. Wie soll das gehen anhand von ganz persönlichem Leid?
Dem Unfalltod des Bruders
Der schweren Erkrankung der Schwester
Dem Selbstmord der Mutter oder der persönlichen schweren Krankheit, dem Verlust entscheidender Lebensqualität, der unheilbaren Erkrankung, den chronischen Schmerzen?
Seit Menschengedenken beißen wir uns die Zähne an diesem Widerspruch aus. Auf der einen Seite der allmächtige, gnädige Gott und auf der anderen Seite offensichtliches Leid. Erfreulich in alledem finde ich, dass unsere Religion, also das Christentum dieses Thema nicht ausklammert. Die Bibel selbst gestattet solche Fragen Die Bibel selbst greift dieses Thema auf. Sie widmet dieser Fragestellung ein ganzes Buch im Alten Testament, dem Buch Hiob.
Und auch im Neuen Testament sind die Christen von Anfang an mit der Realität dieses unverständlichen Leides konfrontiert. In der Apostelgeschichte wird uns innerhalb weniger Verse geschildert, wie einer der Apostel enthauptet wird und der andere von einem Engel aus dem Gefängnis befreit.
Apg.12,1 Um diese Zeit ließ König Herodes verschiedene Mitglieder der Gemeinde von Jerusalem festnehmen und schwer misshandeln. 2 Jakobus, den Bruder von Johannes, ließ er enthaupten. 3 Als er merkte, dass dies den Juden gefiel, ging er noch einen Schritt weiter und ließ auch Petrus gefangen nehmen – gerade in den Tagen des Passafestes. 4 Petrus wurde ins Gefängnis gebracht; zu seiner Bewachung wurden vier Gruppen zu je vier Soldaten abgestellt, die einander ablösen sollten. Herodes wollte ihm nach dem Fest vor allem Volk den Prozess machen. …7 Plötzlich stand da der Engel des Herrn, und die ganze Zelle war von strahlendem Licht erfüllt. Der Engel weckte Petrus durch einen Stoß in die Seite und sagte: »Schnell, steh auf!« Da fielen Petrus die Ketten von den Händen.
Beim befreiten Petrus erfüllen sich die Verheißungen Gottes, die Gebete wurden erhört, das Gotteslob ist gross. Beim enthaupteten Jakobus scheint Gott zu schweigen, seine Versprechen vergessen zu haben und alle Gebete um Errettung sind vergeblich. Die Frau des Petrus ist im Jubel wegen der Rettung ihres Mannes. Die Frau des Jakobus ist in Trauer wegen der ausbleibenden Rettung ihres Mann. Beide haben demselben Gott vertraut. Aber genau diese widersprüchliche Geschichte wird aus der Bibel nicht herausgestrichen. Sie scheint etwas anzudeuten von einer Realität, der sich auch Christen trotz ihres Glaubens stellen müssen.
Gibt es Erklärungsmodelle, die uns helfen könnte Licht auf diese widersprüchliche Situation zu werfen? In Teil 2 und 3 möchte ich zwei gegensätzliche und trotzdem hilfreiche Erklärungen schildern.