Wozu ist Jesus gekommen?
Lk.19,10: Der Menschensohn ist gekommen, um die Verlorenen zu suchen und zu retten.«
Genau dazu ist Jesus gekommen, um Verlorene zu suchen. Jesus spricht immer wieder von Verlorenen. Was meint Jesus damit, wenn er von Verlorenen spricht?
Leider geschieht es nur allzu oft, dass wir bei Verlorenheit gleich an die Hölle denken.
„Verlorene sind Menschen, die nicht in den Himmel, sondern in die Hölle kommen.“
Diese einseitige Vorstellung von Verlorenheit bewirkt leider oft, dass wir ganz bequem bei der Denkkategorie »wir und die anderen« bleiben können. Wir kommen ja in den Himmel und die Verlorenen in die Hölle.
Aber es ist ja genau dieser Ansatz, der zur Distanz führt, der uns in die Rolle der Pharisäer bringt und dieses Überlegenheitsgefühl erzeugt, dem sich keiner freiwillig nähern möchte.
Aber um Jesus herum scharen sich ja die Verlorenen. Er hat ja genau keine Distanz aufgebaut zu diesen Menschen. Und auch uns gelingt das nur, wenn wir Verlorenheit viel breiter auffassen.
Was ist Verlorenheit?
Verlorenheit bedeutet eben in erster Linie nicht, in die Hölle zu kommen. Hölle spielt nicht die dominante Rolle in der Bibel und in der Botschaft Jesu, wie das später im Mittelalter und in mittelalterlichen Abbildungen der Fall ist. Ein ganzer Teil der jüdischen Gläubigen glaubte nicht einmal an ein Leben nach dem Tode und in weiten Teilen des alten Testaments finden wir auch nichts von einem Leben nach dem Tod.
So steht zum Beispiel in der Apostelgeschichte:
Apg 23,8 Denn die Sadduzäer behaupten, dass es weder eine Auferstehung noch Engel oder Geister gibt, während die Pharisäer an all das glauben.
Diese religiöse Gruppe der Sadduzäer glaubte nicht an eine Auferstehung oder ein Leben nach dem Tod. Für einen Juden zur Zeit Jesu war das wichtigste nicht die Höllenvermeidung.
Bei uns ist ja ganz schnell Frömmigkeit und Gehorsam motiviert vom Ziel, es Gott recht zu machen, damit man nicht in die Hölle kommt. Der Jude zur Zeit Jesu denkt aber nicht gleich an die Hölle, sondern er möchte mit dem ihm anvertrauten Leben verantwortungsvoll und gerecht vor seinem Schöpfer leben. Denn diesem Schöpfer verdankt er sein Leben und dieser Schöpfer bewahrt und führt sein Leben und dieser Schöpfer segnet und versorgt ihn.
Der Jude ist nicht von der Strafe motiviert, sondern vom Bund, den er mit Gott geschlossen hat. Er ist diesem Gott verpflichtet, ganz gleich ob es ein Leben nach dem Tod gibt, einen Himmel oder eine Hölle. Ich will doch Gott nicht gehorsam sein wegen einer möglichen Hölle, sondern weil ich in einem Bund mit ihm stehe. Und einen Bund gilt es unter allen Umständen einzuhalten. Und darum muss aus unseren Köpfen der Gedanke heraus, dass es bei Verlorenheit vor allem um die Hölle geht.
Wenn Jesus Menschen vor der Verlorenheit retten möchte, dann geht es ihm nicht primär darum, vor der Hölle zu retten. Denn sonst ist Rettung auch nur für all die Menschen relevant, die an eine Hölle glauben. Für alle anderen sind wir sonst gar keine relevanten Gesprächspartner und Gott kein relevanter Retter. Wer nicht an die Hölle glaubt, und das tun heutzutage die wenigsten Menschen, der ist auch nicht an einer Rettung vor der Hölle interessiert. Das macht genauso wenig Sinn, wie jemanden eine Autoversicherung anzudrehen, der kein Auto besitzt!
Wie können wir Verlorenheit also breiter auffassen?
Wenn Jesus von Verlorenheit spricht, dann geht es um ganz viele Aspekte von Verlorenheit:
-den Weg verloren haben, den Lebensweg, den geraden Weg, den konstruktiven Weg
-Das Ziel und den Sinn verloren haben im Leben. Das betrifft ganz viele Menschen, die im Laufe der Jahre den Sinn ihres Lebens verloren haben durch Schicksalsschläge oder schlechte Erfahrungen oder Misshandlung oder Entbehrung. Wenn es bei Jesus nur um die Rettung vor der Hölle geht, sind diese Menschen erst mal nicht interessiert.
-Die Perspektive, die Hoffnung verlieren. Wie viele Menschen haben ihre Hoffnung verloren, je wieder aus ihrem Schlamassel, aus ihrer Schuld, aus dieser Armut, aus dieser Verzweiflung, aus diesem schlechten Gewissen, aus diesen Selbstvorwürfen herauszufinden.
-Das Maß verloren haben Auch das betrifft viele Menschen, die in verschiedenen Lebensbereichen das Maß verloren haben. Ihr Leben ist gekennzeichnet von massloser Gier oder maßlosem Essen oder maßloser Geldverschwendung. Sie sind masslos ehrgeizig oder neidisch. Sie haben das Maß verloren wenn es um Alkohol geht, Computerspiele oder Sexualität. Sie haben ihr zeitliches Mass verloren, das Maß für ihre Arbeit verloren und schuften sich zu Tode, vernachlässigen Ehepartner oder Kinder.
-Diejenigen, die die Verbindung zu anderen Menschen verloren haben. Menschen, die Beziehungen verloren haben, den Verlust oder den Tod eines Menschen erlebt haben. Menschen, die in die Isolation oder an den Rand geraten sind und nicht mehr zurückfinden in gesunde Beziehungen und Freundschaften. Menschen die innerlich zugemacht haben, verschlossen sind und sich einfach nicht mehr öffnen können.
-Menschen, die Wertschätzung & Anerkennung verloren haben. Ihr Leben ist dominiert von Schuldgefühlen oder von Scham. Sie wurden verletzt, zu Opfern gemacht und ihrer Würde beraubt.
-Menschen, die ihren Frieden verloren haben. Sie fühlen sich als Getriebene, kommen nie zur Ruhe, können sich selbst nicht vergeben. Sie leben in dauernder Auseinandersetzung und Streit mit anderen. In ihnen tobt ein Sturm, sie liegen innerlich auf der Lauer und erklären jedermann zu ihrem Feind.
-Und zu guter Letzt Menschen, die ihre Moral verloren haben. Sie sind auf die schiefe Bahn geraten. Sie haben sich mit den falschen Menschen eingelassen. Ihr Leben wurde unehrlich, betrügerisch. Sie haben ihre Integrität verloren, sie haben ihre Werte dem Erfolg oder dem Geld geopfert. Sie haben ihre Unschuld verloren.
Verlorenheit kann so vielfältig sein und wenn wir Menschen nur vor der Hölle retten wollen, dann haben wir nur eine sehr einseitige Botschaft und eine kleine Zuhörerschaft.
Viele denken, wenn das Thema Hölle vom Tisch ist, dann macht Evangelisation keinen Sinn mehr.
Aber ich sage: wenn das Thema Hölle vom Tisch ist, dann geht es erst richtig los! Dann kann ich ganz vielfältige Rettung zu den Menschen bringen. Wenn es bei Evangelisation nicht nur um die Rettung vor ewiger Verlorenheit geht, dann kann ich die Menschen endlich auf das vielfältige Angebot hinweisen, wo Gott retten möchte und wo er Menschen das Leben wiederfinden lassen möchte, das er ihnen zugedacht hat.
Evangelisation geschieht nicht nur dann, wenn einer in den Himmel kommt und vor der ewigen Verdammnis errettet wird. Evangelisation geschieht überall dort, wo die verschiedenartigste Verlorenheit im Leben von Menschen überwunden wird. Wenn Evangelisation erst dann geschieht, wenn sich einer bekehrt oder in den Himmel kommt, dann fühlt sich der Großteil der Christen ständig als Versager. Denn die wenigsten machen genau dieses Erlebnis, dass sich jemand bei ihnen bekehrt. Wenn Evangelisation aber auch bedeutet, Gottes rettende Kraft in all die vielen verlorenen Lebensbereiche der Menschen zu bringen, dann sind wir plötzlich alle Evangelisten oder zur Evangelisation fähig!
Evangelisation ereignet sich dann auch,
-Wenn ich Gottes heilende Kraft bringe, da wo Menschen ihre Gesundheit verloren haben
-Wenn ich Gottes Weisheit und Rat bringe, da wo Menschen ihren Weg verloren haben
-Wenn ich Gottes Frieden bringe, da wo Menschen ihre Geborgenheit verloren haben
-Wenn ich Gottes Hoffnung bringe, da wo Menschen ihre Perspektive verloren haben
-Wenn ich Gottes Würde bringe, da wo Menschen ihr Gesicht verloren haben.
All das ist Evangelisation im eigentlichen Sinne: eine gute Botschaft bringen.
Und ich bin davon überzeugt, dass jedes Erlebnis mit der Retterliebe Gottes Menschen Stück für Stück näher dazu bringt, Gott die gesamte Herrschaft ihres Lebens anzuvertrauen.
Jesus hat genau solche verlorenen Menschen gesucht. Für ihre vielfältige Verlorenheit wollte er die Rettung sein. Und die Menschen haben das gespürt und die Verlorensten von allen haben sich in Scharen um ihn versammelt. Sie haben gehofft, dass Jesus ihnen hilft ihren Weg, ihre Perspektive, ihre Würde, ihre Menschlichkeit, ihre Moral, ihren Frieden, ihre Unschuld und ihre Hoffnung wiederzufinden.
Wenn wir Verlorenheit in diesem Sinne verstehen, dann gibt es plötzlich kein »die und wir« mehr. Dann geschieht Mission und Evangelisation auf Augenhöhe! Dann gibt es kein christliches Gefälle hin zum Rest der Welt. Dann kann man auch von uns sagen: Freunde der Sünder und Zöllner.
Dann kann ich mich nicht vom Rest der Welt absondern indem ich sage: ich komm ja in den Himmel. Wenn Verlorenheit so umfassend gemeint ist, dann bin auch ich immer wieder ein Verlorener und dann brauche auch ich immer wieder Rettung. Denn auch ich verliere zwischendurch meine Perspektive, auch ich verliere immer wieder das Maß, auch ich verliere von Zeit zu Zeit meinen Frieden, auch ich verrenne mich in verkehrte Wege, Haltungen und Überzeugungen. Auch nach vielen Jahren Christsein brauche ich immer noch einen Retter, selbst wenn die Ewigkeitsfrage schon längst geklärt ist. Erst wenn ich das verstanden habe, kann ich auch die anderen wichtigen Aussagen Jesu befolgen, wo er uns auffordert andere nicht zu richten oder zu verdammen oder zu verurteilen.
Mehr zu dieser Thematik am 15.3.15 im Gottesdienst der Basileia Vineyard Basel,
17.30 in der Theodorskirche in Basel!