Missbrauchsfälle in der Kirche haben lange Zeit die Berichterstattung in den Medien bestimmt. Grundsätzlich ging es dabei immer um sexuellen Missbrauch. Und das ist wichtig, solche menschenverachtenden und antichristlichen Verhaltensweisen ans Licht zu bringen.
Aber es gibt auch anderen Missbrauch in christlichen Kreisen: der Missbrauch von Gottes Wort, durch den dann wieder einzelne Christen oder Kirchen missbraucht werden. Er liegt vor, wenn die Bibel so gebraucht und eben Missbraucht wird, dass die eigene Meinung als Gottes Wort deklariert wird und mit der vermeintlichen Klarheit von Gottes Wort, also der eigenen Meinung, jede Diskussion ausgelöscht wird.
Es geht um die tragische Verwechslung von eigener theologischer Überzeugung und den Aussagen der Bibel. Theologische Überzeugungen sind gut und wichtig, aber sie resultieren aus meiner Interpretation der Bibel. Und sie sind meine subjektive Meinung. In allen geistlichen Gesprächen von Menschen begegnet uns immer nur Interpretation der Bibel und nie nur Bibel pur.
Sehr gut formuliert diesen Missbrauch Heinzpeter Hempelmann in einem Aufsatz, aus dem ich kurz zitieren möchte
Bemerkenswert ist das schon psychologisch: Ich habe da ein Anliegen, aber es ist ja zunächst nur meines. Es wird aber ein allgemeines und wichtiges, indem ich beanspruche: Es ist nicht meine, es ist Gottes Sicht der Dinge, die ich da vertrete. Gott selber sagt. Sein Wort sagt. Höher kann man nicht zielen. Mehr Autorität kann ich nicht beanspruchen, und das obwohl ich doch nur ein kleiner Mensch mit womöglich wenig Autorität bin. Den mühsamen Prozeß der Findung von Unterstützung oder der Erzielung von Konsens durch Kompromiß kann ich so spielend umgehen. Wer wollte Gott widersprechen, seinem Wort gegenüber Widerstand leisten? …
Das ist Mißbrauch der Bibel, Mißbrauch auch des Wortes Gottes. Das ein solcher Mißbrauch häufig passiert, macht die Sache nicht besser. Dieser Mißbrauch funktioniert nur, weil in der Sache die Notwendigkeit der Hermeneutik und Interpretation bestritten wird. „Die Bibel ist völlig eindeutig. Willst du bestreiten, daß Gott klar redet? Willst du dich um klare Befunde herumdrücken?“ Nur die Negation der Notwendigkeit der Hermeneutik macht ein solchermaßen „assertorisches“ und imperativisches Reden möglich. Die Argumentation, wenn man denn von einer solchen sprechen will, ist immer dieselbe:
die Bibel sagt/ Gott sagt/ Gottes Wort sagt/ Gottes Wille ist – und hier kommt dann zunächst ein Bibelwort und dann völlig unvermittelt die eigene Position. Gottes Wort ist das, was ich euch sage. Und umgekehrt: was ich euch sage, ist ganz offenbar Gottes Wort….
Vergleichbares gilt auch für den biblizistischen Argumentationsansatz, den wir zu Anfang präsentiert haben. Bei Licht besehen, wird da ja gar nicht die Bibel, das Wort Gottes präsentiert, sondern nur eine subjektive Auswahl der biblischen Belege, die die eigene Position unterstützen. Der Mißbrauch liegt in der Selektion bestimmter Stellen und in der Ausscheidung derer, die nicht passen. Im besten Fall liegt hier mangelnde Sorgfalt vor. Immer jedoch geht es um den geistlich-theologischen oder besser: ungeistlichen und ganz und gar untheologischen Willen zur Macht.
Eine wichtige Hilfe, um Gottes Wort eben nicht zu missbrauchen ist nach Hempelmann die Demut. Er schreibt:
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Demut: genaues Unterscheiden zwischen dem, was ich vertrete, und dem, was womöglich der Wille Gottes/ das Evangelische etc. ist. Es zeichnet den Sektierer aus, daß er diese Unterscheidung übergeht. Genau dieser Verzicht auf die Unterscheidung zwischen mir und dem Wort Gottes bedeutet denn auch den Mißbrauch des Wortes Gottes, und mag ich es auch noch so häufig im Munde führen. Ich treibe Theologie im Wissen darum, daß ich Gottes Standpunkt, seine Sicht der Dinge nie und nimmer erreiche. Das bedeutet übrigens auch den Verzicht auf Bibelhermeneutken, die genau das unterstellen: daß es möglich sei, Gottes Wort 1:1 in die Gegenwart hinein zu sagen.
Es bleibt zu wünschen, dass in geistlichen Auseinandersetzungen mit mehr Demut und Bescheidenheit diskutiert wird.